Arno Reinfrank

Arno-Reinfrank-Jugendpreis 2015

Jette Damminger

Jette Damminger,  (16 Jahre)
Gruppe 15-21 Jahre:
Kategorie Kurzgeschichte

Uhrzeit des Lebens

Jette Damminger (16 Jahre) Gruppe 15-21 Jahre: Kategorie Kurzgeschichte


Uhrzeit des Lebens

Langsam und schwer atmend liegt er auf seinem Bett, starrt die weiße Decke über ihm an, versucht Muster in ihr zu sehen. Jeder Atemzug kostet ihn Anstrengung, bringt seinen Körper näher an seine Grenzen. Kurz vor Ende, heißt es doch, zieht das Leben vor den Augen an einem vorbei. Ob man nun möchte oder auch nicht. Er runzelt die Stirn. Es ist kurz vorm Ende. Also wo bleibt der Film? Fragend blickt der alte Mann die Decke an, als könne diese ihm eine Antwort geben. Er kommt zum Schluss, dass er es wohl selbst in die Hand nehmen muss und die Erinnerungen nicht einfach so kommen, wie man immer sagt. "Warum sagt man das, wenn es noch nicht einmal stimmt", fragt er sich in Gedanken, lässt diesen doch wieder fallen, weil es nicht das ist, an das er denken will. Wo soll er anfangen? Hmmmm, eigentlich klar. Da wo es angefangen hat. Bei seiner Geburt, auch wenn er sich nicht an diese
erinnern kann. Aber niemand kann sich an seine eigene Geburt erinnern.

Er schließt die Augen. Versucht seine Gedanken loszulassen. Sich nicht an eine Erinnerung zu binden. Sie sollen auf ihn einprasseln, ihm durcheinander oder wie auch immer sein Leben zeigen. Sie sollen kommen und gehen und er will nur zu sehen.

Tick Tack. Tick Tack.

Ein leicht verschwommenes Bild. Helles Kinderlachen. Schwankende Sicht. Sonnenlicht erstrahlt die Straße. Ein leichter Wind kühlt seine Haut. Ein Lachen entweicht seinem Mund, hell und klar, das eines Kindes. Seine kleinen Kinderschritte kommen ihm selbst unglaublich groß vor und er meint, er wäre schneller. Schneller als der große Mann hinter sich. Wenn der Junge sich umdreht, sieht er das freudige Gesicht des Mannes, der ihm spaßeshalber hinterher jagt. Er will schneller sein als sein Papa. Schneller und schneller. Und im nächsten Moment spürt er den harten Asphaltboden der Spielstraße. Der Schreck steckt ihm in den Knochen, und in den ersten Sekunden guckt er nur überrascht nach oben, wo sein Papa schon zu ihm rennt. Doch dann schreit er los. "Papaaa!", weint er und hebt seine Arme. Schon liegt er in Papas Armen. "Wo tut es denn weh Kleiner?" "Da!", deutet er auf seinen Arm, die Tränchen langsam getrocknet, der Rotz aus der Nase triefend.

Tick Tack. Tick Tack.

Fest drückt er seinen Teddy an sich. Durch die halbgeöffnete Tür dringen die wütenden Stimmen eines Streites seiner Eltern zu ihm durch. Im Pyjama steht er da, weiß nicht, ob er es wagen soll, durch sie hindurchzugehen und zu Mama zu laufen, sich an sie zu klammern und seine Eltern anzuflehen aufzuhören. Er mag es nicht, wenn Mama und Papa sich anschreien. Das passiert selten, aber manchmal schon. Und dann versteckt er sich eigentlich immer in seinem Zimmer. Doch dieses Mal will er sich nicht verstecken. Er will stark und mutig sein. So tritt er durch die Tür und bleibt kurz darauf stehen. Fragend blickt er zu seinen Eltern auf, die sofort verstummen, als sie sehen. Mit seinem Teddy im Arm, den hellblauen Pyjama an, die braunen Locken in alle Richtungen stehen. Sein unschuldiger, bittender und gleichzeitig fragender Blick vernichtet den Streit der Eltern.

Tick Tack. Tick Tack.

Fröhliche Weihnachtsmusik. Der Duft von Zimt und Plätzchen hängt in der Luft.
Glückseligkeit macht sich breit. Die Kerzenlichter des vollgeschmückten Christbaums erleuchten den Raum. Unter diesem liegen mal große, mal kleine Geschenke. Bunt in verschiedenes Geschenkpapier eingepackt scheinen sie zu leuchten. Genauso wie seine Augen, die diese erblicken. "Mama, Papa! Dürfen wir bitte schon vor dem Abendessen auspacken!", bettelt er. Das kleine Mädchen sitzt neben ihm auf dem Boden und bearbeitet seine Füße, die anscheinend mehr als interessant sind. "Wir hatten gehofft, dass du schon alt genug bist, um deine Ungeduld in den Griff zu kriegen. Aber naja, da haben wir uns wohl getäuscht", seufzt der Mann theatralisch. "Stimmt nicht! Ich bin alt genug!", prahlt der Junge
im Alter von acht Jahren und tappt so in die Falle seines Vaters. Ungeduldig sitzt er am Tisch, versucht es sich nicht anmerken zu lassen. Denn er ist schon groß, fast erwachsen! Er merkt nicht, dass seine Eltern ihn amüsiert betrachten, zu sehr denkt er an die vielen Geschenke, die unter dem Baum auf ihn warten. Endlich ist das Abendessen beendet. Er stürzt sich auf die Geschenke, auf denen sein Name steht. Das kleine Mädchen krabbelt so schnell wie möglich nach. Auch sie nimmt interessiert eins von den komischen bunten Dingern in die Hand. Der Mann und die Frau setzen sich zu den beiden und betrachten sie. Die glücklichen Gesichter ihrer Kinder, wenn sie etwas ausgepackt haben. Fröhlich blickt der Junge die Eisenbahn an, die er geschenkt bekommen hat.

Tick Tack. Tick Tack.

Die Sonne prallt heiß auf die Erde. Einer der heißesten Sommer der letzten Jahre. Kühles Wasser spritzt ihm ins Gesicht. Das Mädchen quietscht erschrocken, als er aus Rache spaßig zurückspritzt. Eine Wasserschlacht entsteht. Das Wasser kühlt angenehm ab. Zurück an Land trocknen sie sich ab. Die Mütter geben ihnen Sonnencreme. Genervt rollt er die Augen. Endlich das erlösende Klingeln. Jedes Kind kennt es. Das Klingeln des Eiswagens. Er springt auf, schnappt sich die paar Münzen, die seine Mutter ihm für genau den Vorfall gegeben hat. Das Mädchen folgt ihm lachend. Stolz spendiert er ihr ein großes Erdbeereis und sich selbst ein Schokoeis. Sie lächelt ihn an, schleckt ihr Eis. Zufrieden isst er sein eigenes. Nichts wissend von der Schokoschnute in seinem Gesicht stolziert er mit dem Mädchen an der Hand zurück zu den Mamas.

Tick Tack. Tick Tack.

Weinend rennt das kleine Mädchen zu ihm und dem Mann. Auf die Frage, was los sei, antwortet sie nicht richtig. Nennt nur den Namen des Hasen. Zusammen rennen sie raus in den Garten. Auf den kleinen Stall zu. Er sollte hüpfend durch die Gegend rennen, fressen, leben. Stattdessen liegt der kleine Hase auf der Seite, die Augen starren ins Leere. Der Mann seufzt. "Tut mir leid, Kleines." Er nimmt das kleine Mädchen in den Arm. Der Junge betrachtet stumm den grauen Hasen, hört das Schluchzen seiner Schwester. Er darf nicht weinen. Nein, das machen nur kleine Kinder. Und er ist nicht mehr klein.

Tick Tack. Tick Tack.