Arno Reinfrank

Arno-Reinfrank-Jugendpreis 2019

Jens C. Maurer

Der Freund, der keine Fragen stellt

von Jens C. Maurer

 

Es ist dunkel. Ich kann nichts sehen. Das ist jetzt schon eine Weile so. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal die Sonne gesehen habe - so lang schon stecke ich in dieser Einöde fest. Mir ist kalt. Ich spüre einen eisigen Wind, die sich wie tausend kleine Nadelstiche in meinen Aux-Anschluss bohrt. Richtig gehört - mein Aux-Anschluss. Ich bin ein Kassettenrekorder. Zumindest war ich das mal, bis ich nicht mehr benutzt wurde. Ich wurde ersetzt - durch einen iPod. Das letzte, woran ich mich erinnern kann, ist der Anblick eines riesigen Berges aus alten Haushaltsgeräten. Verrostete Toaster, eingeschlagene Monitore, Kühlschränke ohne Türen. Wie ein Friedhof, für Geräte wie mich. Kein Touchscreen, keine Telefonfunktion, keine moderne Technik. Heutzutage gibt es viel bessere Geräte als mich - es ist traurig, aber wahr. Selbst CD-Spieler gelten schon als alt, da bin ich mit meinen Kassetten erst recht aus der Mode gekommen. Also liege ich einfach hier, blicke in die ewige Dunkelheit und friere.

So langsam habe ich mich daran gewöhnt. Die Stille, die Kälte, die Dunkelheit. Ich habe schon lange aufgehört, vor ihr Angst zu haben. Anfangs fürchtete ich mich vor allem, vor allem aber vor der Dunkelheit. Sie erinnerte mich stets daran, dass ich weggeworfen, verlassen und vergessen wurde. Das ist es doch, wovor die meisten Angst haben. Nicht vor Verletzungen, nicht vor Ausgrenzung, nicht vor dem Tod - sondern davor, von allen vergessen zu werden. Es ist fast so, als hätte man nie wirklich existiert. Niemand, nicht einmal die, die sich einst deine engsten Freunde schimpften, haben den geringsten Funken deiner Existenz in ihren Gedächtnissen gespeichert. Diese Vorstellung lässt nachdenklich werden. Was kann ich tun, damit ich nicht vergessen werde? Gibt es einen Grund, warum sie mich vergessen wollen? Nein. Damit hat das alles nichts zu tun. Das Vergessen ist ein natürlicher Prozess - eben so wie Atmen, Schlafen, Sterben. Es passiert, ganz ohne äußere Einflüsse. Niemand kann es kontrollieren, niemand möchte es kontrollieren können. Denn es wäre viel schlimmer, eine Person nicht vergessen zu können. Man würde durchdrehen, ausrasten und ewig trauern. Deshalb habe ich mich daran gewöhnt. Ich liege hier und friere. Ich liege hier und schaue … in den Himmel? Was passiert hier? Sterbe ich? Eine Hand … Sie ist wieder da! Sie muss mich die ganze Zeit gesucht und endlich gefunden haben! So lange warte ich schon auf sie und jetzt ist sie endlich hier! Sie … ist es nicht? Die Augen, die Nase, der Bart - das ist ein fremder Mann. Warum sollte mich ein Fremder mitnehmen? Ich versuche ihn anzuschreien, doch aus meinen Lautsprechern kommt nichts als Stille. Er wirft mich von einer Hand in die andere, hebt mich dann ganz nah an seine Augen heran und pustet mir den Staub von den Knöpfen. Wird er mich wegwerfen? Ich hoffe mal, dass ich dieses Mal auf meiner Rückseite lande, damit ich wenigstens den schönen Himmel betrachten kann und nicht schon wieder in Dunkelheit verbleibe. Gleich wird es passieren - ich kann es spüren. Dieser Blick - gleich wird er mich zurückwerfen. Nur noch ein Moment. Ich mache mich auf den Aufprall gefasst, aber er passiert nicht. Ich schaue den Fremden an. Er … lächelt? Warum lächelt er? Ist er ein Sadist, der es mag, Geräte wie nutzlosen Müll wegzuwerfen? Vielleicht will er mich auch noch auseinandernehmen! Er drückt meinen “Open”-Knopf und öffnet mein Deck. Nicht mein Schatz! Diese Kassette gehört meiner Besitzerin! Sie liebte die Band Queen. Nimm mir alles, nur nicht diese Kassette! Klack - sie ist wieder drin. Er hat sie zurückgelegt. Aber wenn er mich nicht wegwerfen will, was macht er dann mit mir? Seine Hand fährt über meine Knöpfe - das kitzelt! Sie bleibt über einem Knopf stehen und drückt diesen herunter. Ich habe zwar nicht mehr viel Energie übrig, aber ein paar Sekunden sollte ich noch durchhalten. Ich hole tief Luft und singe die Anfangsmelodie zu The Show Must Go On durch meine Lautsprecher. Der Fremde schreckt auf - anscheinend ist er überrascht, dass ich noch funktioniere. Dem hab ich es gezeigt! Zumindest bis jetzt. Ich spüre, wie mir die Energie ausgeht. Ich versuche durchzuhalten, aber ich schaffe es nicht. Vielleicht habe ich zehn - höchstens zwanzig - Sekunden durchgehalten. Mit einem leisen Rattern verstummt die schöne Melodie … und mit ihr ich.

Wo bin ich? Irgendwas ist anders. Es ist … wärmer als sonst. Auch die Dunkelheit ist gewichen. Ich liege auf Holz. Neben mir steht eine Lampe und eine Packung Taschentücher. Ein Nachttisch? Ich spüre, wie ein Haufen Energie in meinen Akku gepumpt wird. Er hat mich also tatsächlich mitgenommen? Ich kann mein Glück kaum fassen! Das Zimmer ist nicht gerade groß, aber das stört mich nicht. Auf dem Boden liegt ein Haufen Wäsche, an der Wand hängen Plakate von gezeichneten Mädchen. Auf dem Boden steht ein Karton. Normalerweise wäre das nichts besonderes, aber auf ihm steht etwas in schwarzen Großbuchstaben geschrieben. Wäre es nicht auf dem Kopf, könnte ich es vielleicht entziffern. Ka … Kass … Kassetten! Moment, sind das etwa Rufe? Ich lausche in den Raum hinein. Hinter der Tür streiten sich doch zwei! Ein Mann und eine Frau - ich kann sie deutlich hören. Schon öffnet sich die Tür und er kommt rein. Er sagt ein böses Wort, das ich jetzt lieber für mich behalte und knallt die Tür zu. Er fährt sich durch die Haare und atmet schwer. Anscheinend versucht er seine Tränen zu unterdrücken. Er lässt sich erschöpft aufs Bett fallen und vergräbt sein Gesicht im Kissen. Nach ein paar Minuten scheint er sich wieder gefangen zu haben. Wie kann ich nur seine Aufmerksamkeit bekommen? Ich möchte ihn doch aufheitern! Hallo! Kannst du mich hören? Unsinn, mittlerweile sollte ich es doch besser wissen. Moment, er schaut mich an! Kann er mich vielleicht doch verstehen? Sein Gesicht ist rot und an seinen Wangen hat sich ein getrockneter Tränenfluss abgebildet. Er steht auf und geht zu dem Karton mit den Kassetten! Er stellt ihn auf dem Bett ab und hebt den Deckel hoch. Sind das aber viele! Manche von ihnen habe ich noch nie zuvor gesehen. Er kramt eine heraus, öffnet sie und steckt sie in mein Deck. Jetzt muss ich alles geben! Mein “Play”-Knopf wird gedrückt und ich fange an, die Melodie zu spielen. Ein schönes Lied. Dem Lächeln nach zu urteilen scheint es ihm zu gefallen. Er legt sich wieder auf das Bett, lehnt sich entspannt zurück und schließt die Augen. Keine Sorge - ich heitere dich auf. Das werde ich von jetzt an immer tun.

Er nimmt mich überall hin mit und zeigt mir die Welt, die mir so lange verwehrt wurde. In der Schule zeigt er mich seinen Freunden und gibt mit mir an. Zuhause liegt er im Bett und lässt mich Musik spielen, bis er einschläft. Es ist schön, gebraucht zu werden. Aber am schönsten ist es, nicht mehr davor Angst haben zu müssen, vergessen zu werden. Trotzdem mache ich mir Sorgen. In letzter Zeit singe ich immer häufiger für ihn. Auch die Streitereien, die ich vom Nachttisch aus belausche, häufen sich. Mittlerweile weiß ich, dass es sich bei der zweiten Person um seine Mutter handelt. Einmal ist sie ihm hinterhergerannt und hat ihn bis aufs Bett verfolgt. Er hob seine Hände schützend vor sein Gesicht, doch das half nur bedingt - sie schlug mit voller Wucht auf ihren Sohn ein. Ich wollte eingreifen - hätte ich doch nur eine Stimme! Schlag um Schlag prügelte sie auf ihn ein. Er wehrte sich nicht. Ein paar Male wimmerte er und auch den ein oder anderen Schrei konnte er nicht unterdrücken. Es dauerte eine Weile, doch irgendwann schien sie erschöpft zu sein. Sie setzte sich auf die Bettkante und rang nach Luft. Tränen liefen an ihren Wangen herunter. Sie drehte sich zu ihm um und streckte die Hand nach ihm aus. Er zuckte zusammen. Sie stand auf und rannte aus dem Zimmer. Er nahm mich in die Hand, setzte sich die Kopfhörer auf und drückte “Play”.

Das ist jetzt schon drei Jahre her. Seitdem ist eine solche Situation bisher zwei weitere Male vorgekommen - das letzte Mal vor zwei Tagen. Wahrscheinlich ist das der Grund, wieso er heute seine Sachen packt. Durch die Gespräche mit seinen Freunden habe ich erfahren, dass er erst 17 Jahre alt ist - zu jung, um alleine zu leben. Das scheint ihn allerdings nicht zu stören. Es ist halb drei Uhr morgens. Auf dem Bett steht seine Sporttasche, in der er normalerweise seine Sachen für das Fußballtraining mitnimmt. Jetzt ist sie bis zum Rand gefüllt mit Klamotten, verpackten Nahrungsmitteln und mehreren Kassetten. Nur ich liege noch daneben. Als könnte er meine Gedanken lesen, hebt er mich auf, setzt wieder die Kopfhörer auf und drückt “Play”. Wieder Queen. Er öffnet sein Fenster, zögert kurz. Ein letzter Blick ins Kinderzimmer. 17 Jahre seines Lebens hat er hier verbracht. 17 Jahre, von denen ich drei Jahre und zwei Monate mit ihm teilen durfte. Er dreht sich um, macht einen Satz und landet auf dem feuchten Asphalt.

Ich glaube, dass er nicht genau weiß, wo er eigentlich hin möchte. Planlos hetzt er durch die menschenleeren Straßen. Erst links, rechts, dann geradeaus und wieder von vorn - wie ein wiederkehrender Rhythmus. Währenddessen beschalle ich ihn mit seinen Lieblingsliedern. Vielleicht vergisst er so die blauen Flecken. Es ist mir egal, wo wir hingehen - wo wir heute Nacht schlafen werden - solange ich bei ihm bin, ist alles gut. Er bleibt stehen und stützt sich mit seinen Armen auf seinen Knien ab. Die Ampel ist rot. Er atmet schwer. Vereinzelt fallen Regentropfen auf den Boden, bilden Pfützen und auf einmal schüttet es. Er flucht. Ohne nach links oder rechts zu schauen rennt er über die Straße. Der Fahrer macht eine Vollbremsung. Wenige Zentimeter vor uns kommt das Auto zum Stillstand. Ich sehe, wie der Fahrer seinen Arm hebt und vor Wut brüllt. Mein Freund lässt sich davon kaum beirren, schon rennt er weiter. Bei einem Baum macht er halt und stellt sich unter. Er zieht mich aus seiner Tasche und kontrolliert, ob ich nass geworden bin. Ich mag es, wenn er sich um mich sorgt. Nachdem er sich davon überzeugt hat, dass es mir gut geht, dreht er die Kassette auf ihre B-Seite und steckt mich wieder in seine Tasche. Lange können wir hier nicht bleiben, das wissen wir beide. Der Regen scheint sich zu beruhigen, nur noch wenige Tropfen prasseln auf uns nieder. Unsere Reise geht also weiter.

Ein paar Stunden später sind wir unter der Stadtbrücke angekommen. Hier ist es trocken und es gibt genug Nischen, die man als Schlafplatz gebrauchen kann. Er zieht seinen Schlafsack aus der Tasche, breitet ihn auf dem Boden aus und legt sich hinein. Er scheint vollkommen erschöpft zu sein. Ich werde ihn aufmuntern.

Der nächste Morgen ist schneller gekommen als gedacht. Er rollt seinen Schlafsack wieder ein und steckt ihn zurück in die Tasche. Jetzt, da es heller geworden ist, kann man deutlich mehr erkennen. Anscheinend sind wir nicht die einzigen, die hier übernachtet haben. Am Flussufer sitzen vier Männer, die allesamt schmutzig und ungepflegt aussehen. Mein Freund steht auf und geht zu ihnen hinüber. Mutig. Ich glaube kaum, dass ich mich sowas getraut hätte. Er tippt einem der Männer auf die Schulter. Schnell drehen sich alle vier zu ihm um und schauen ihn böse an. Sie stehen auf und kreisen meinen Freund ein.

“Gib uns dein Geld, Kleiner!”

“Ich habe kein Geld.”

“Dann gib uns das Ding da!”

Der Mann zeigt auf mich. Mein Freund schüttelt den Kopf. Er will mich beschützen! Die Männer gehen einen weiteren Schritt auf ihn zu. Einer von ihnen holt aus! Schnell, duck dich! Mein Freund geht zu Boden und ich falle. Plötzlich werde ich aufgehoben und wie eine Trophäe nach oben gehalten.

“Was denkt ihr, wie viel kriegen wir für das Teil? Das hat bestimmt Sammlerwert!”

“Gib mir das zurück!”

Selbst wenn er auf dem Boden liegt, will er mich trotzdem beschützen. Einer der Männer tritt ihm in die Magengrube. Was soll ich nur tun? Hätte ich doch nur eine Stimme! Die Männer wollen sich gerade umdrehen und gehen, als ein Ruf ertönt: “Lasst ihn in Ruhe!” War ich das? Nein, ich kann doch nicht reden. Wer war es dann? Die Männer schauen sich verdutzt um und ihr Blick landet auf der Silhouette, die ein paar Meter von ihnen entfernt steht. Die Hand der Person zückt etwas von ihrem Gürtel und spricht hinein: “Hier Einheit B-12, erbitte Verstärkung unter der Stadtbrücke.” Eine Frau!

“Die Bullen! Lasst uns abhauen!”

Schon werde ich fallen gelassen und sehe nur noch die Fersen der Männer, die meinen Freund verdroschen haben. Die Frau tritt ins Licht und entpuppt sich als deutlich jünger als erwartet. Auch das vermeintliche Funkgerät in ihrer Hand sieht nicht so aus, wie ich es mir vorgestellt hatte - es ist ein Kassettenrekorder! Sie eilt zu uns herüber, hebt mich auf und übergibt mich meinem Freund. Er hustet heftig, schaut zu ihr hoch.

“Danke, du hast mir das Leben gerettet.”

“Nicht doch! Ich habe nur meinen Job gemacht!”

Sie lächelt und zwinkert uns zu.

“Wo sind denn deine Eltern?”

“Weg.”

“Freunde?”

“Das da ist im Moment mein einziger Freund.”

Er streckt mich ihr entgegen.

“Du hast auch einen?”, fragt sie und hebt dabei ihr “Funkgerät” hoch. “Komm’ mit, wir können Kassetten tauschen!”

Ein Jahr ist seit dem nächtlichen Ausbruch vergangen. Mein Freund und ich wurden von Michelle gerettet und bei ihr aufgenommen. Schnell freundeten sie sich miteinander an und noch schneller wurde daraus mehr als nur eine Freundschaft. Ihre Wohnung ist nicht besonders groß, aber sie reicht für zwei junge Menschen. Selbst nach all den Jahren wurde ich nicht vergessen. Auch heute noch werde ich verwendet und geliebt. Dazu kommt noch, dass ich durch Michelles Sammlung Lieder spielen durfte, die ich noch nie zuvor gehört habe. Ich bin froh, dass ich meinem Freund in seiner schwersten Zeit helfen konnte. Ich bin froh, dass er sein Glück gefunden hat und wir gemeinsam in einen neuen Lebensabschnitt eingetreten sind. Zusammen sind wir eben ein unschlagbares Team!