Arno Reinfrank

Laudatio zur Verleihung des Robert-Blum-Preises posthum an Arno Reinfrank

Eckhart Pilick - 10.November 2001

Liebe Jeanette! Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Freunde!

Bevor ich selber über diesen verdienstvollen Mann urteile, möchte ich mit ein paar Zitaten zeigen, wie ihn andere gesehen haben: "Wer (ihn) zum ersten Mal sieht, den kleinen, purzeligen Nußknacker, dem wird er zwar auffallen, aber nicht gerade auf den ersten Blick wird es ihm einleuchten, daß er einen so bedeutenden Menschen vor sich habe."- "Er sieht aus wie ein Mann, der gar keinen Eindruck machen will." Aber: "Ein kerniger Geist, ein gesundes Herz, klare Anschauung und Überschauung der Verhältnisse sprechen aus seinen schriftstellerischen Arbeiten. Sie kommen vom Herzen und gehen zu Herzen."- "Wie hell schaut er die Dinge (die Fakten) an, wie scharf stellt er sie hin, und mit welch ironischen Geistesblitzen weiß er sie zu beleuchten." - Und das schon in jenen Jahren, in denen "jeder Schriftsteller, der nicht log, nicht frömmelte, nicht kroch", mißliebig war. - "Einfachheit und Klarheit der Sprache" rühmt Lasker in seinem Aufsatz an ihm, und dann schreibt er: "Worte sind Taten. Jedes wahre Wort, frei ausgesprochen, zerstört einen Nebel, eine Finsternis, einen Wahn, eine Lüge, eine Ungerechtigkeit." 

Der Werdegang dieses freireligiösen Mannes, der mit den zitierten Sätzen charakterisiert worden ist, sein Weg "vom Handwerker zum Federfuchser", von seiner Geburtsstadt am Rhein bis zu seinem Wirken in der Fremde (kurz vor seinem Tod war er noch in Wien) - : Sie als Freireligiöse kennen ihn gut. Wissen Sie aber auch, wer mit diesen Worten gemeint ist?
Nein, nicht Arno Reinfrank, sondern Robert Blum ist so beschrieben worden. Sämtliche Zitate stammen aus dem Buch "Des deutschen Volkes Erhebung im Jahre 1848, sein Kampf um freie Institutionen und sein Siegesjubel. Ein Volks- und Erinnerungsbuch für die Mit- und Nachwelt" von Lasker und Gerhard, in Danzig 1848 noch vor dem Tod Robert Blums und dem Scheitern der Revolution erschienen. Treffen sie nicht auch auf den heutigen Preisträger zu?

Sie, liebe Freunde einer Freien Religion, ehren mit der Verleihung des Robert-Blum-Preises an Arno Reinfrank tatsächlich beide Persönlichkeiten. Denn auch in ihren Zielen und ihrer Weltanschauung liegt so viel Gemeinsames. Der Unterschied: Blum war Redner und Politiker, Reinfrank Schriftsteller und Poet. Der eine wie der andere stammten aus einem armen Elternhaus, Blum aus Köln und Reinfrank aus Mannheim-Ludwigshafen, arbeiteten sich hoch und gelangten aus eigener Kraft zu hohem Ansehen, und doch vergaßen sie nie, woher sie kamen, behielten den Blick von unten bei, dachten bei jedem Sieg an die Leidenden und die Opfer, die Unterdrückten und die, die im Dunkeln leben und keine Lobby haben, und beide gleichermaßen verliehen diesen Menschen Sprache. Das Wort war ihr Metier, bei Blum das gesprochene, bei Arno das geschriebene. Der gegen Dogmen und Intoleranz, Privilegien und Dummheit wehende Zeit-Geist ist der Heilige Geist, hieß es bei den Deutschkatholiken und Lichtfreunden damals. Und dem hätte sich auch Reinfrank angeschlossen.

In ihrem persönlichen Leben sind sie offen für alles und von unstillbarem Wissensdurst gewesen, mit scharfer Beobachtungsgabe und der seltenen Gabe des Humors ausgestattet. Stets suchten sie den Dialog mit anderen, schrieben Briefe über Briefe.

Arno Reinfrank hatte die gleichen Zwecke im Auge wie der Namenspatron des Preises, der ihm von Ihnen heute posthum verliehen wird. "Ich bin immer für die humanistische Kultur eingestanden", bekannte Reinfrank (in seinem Brief an Maria und Rainer Schrauth vom 23.3.2001), nachdem er wenige Monate vor seinem Tod auf sage und schreibe 51 Buchtitel aus seiner Feder zurückblicken konnte. (Es werden wohl bald weitere folgen, sobald sein Nachlass gesichtet ist.)

Meine Damen und Herren!
"Natürlich war Arno der Aufklärung verpflichtet. Humanität ist sein Banner gewesen. Jeder weiß das. Sicherlich ist er ein poeta doctus. Daß ihm in seiner humanistisch-sozialistischen Grundhaltung Metaphysik im allgemeinen und Irrationalität oder Mystik im besonderen suspekt waren, ist bekannt. Wer seine "informative Literatur" (so hat er sie selber einmal genannt) kennt, sieht, daß er das Hintersinnige in den Fakten selber findet. Im Detail steckt alles, wir wissen es. Es ist auch nicht so, daß Resultate der Wissenschaft oder Tatbestände der Wirtschaft von ihm als Metaphern verwendet würden, nein, sie sind das Thema selbst. - Aber was denn genau macht "seine" Fakten zu Poesie, zu Kunst? An dieser Frage entzündete sich unser Streit. Mit einem handfesten Krach hat unsere Freundschaft nämlich begonnen. "Fakten sind mir egal", hatte ich ihm geschrieben. "Das einzige Faktum, das ich beim Dichter gelten lasse, ist die Sprache." -

Wie viele Fakten gibt es? Unzählbare allein in Darmstadt. Über dreitausend Gedichte hat Arno Reinfrank in seiner Poesie der Fakten versammelt.. Astronomen gehen heute von 10 hoch 127 Universen aus. In unserem Hirn finden sich 10 hoch 11 Neuronen, die eine entsprechend riesige Menge von Verknüpfungen eingehen können. Fakten spiegeln also immer nur aspekthaft und aphoristisch die Einstellung des Betrachters zur Realität wieder. Ihre Auswahl, ihre gedankliche Durchdringung, ihre Kombination und ihre Bewertung machen also die poetische Wirklichkeit, d.i. die Wirklichkeit des Dichters, aus. Diese allein zählt. Reinfrank versuchte allerdings, mit seinen "Ideogrammen" nach eigener Aussage "eine neue Enzyklopädie der Welteigenschaften zu bieten"! Ein ganz bewußter Hinweis auf Diderot und dlembert und ihr 42-bändiges Monumentalwerk der Aufklärung.- Wenn wir freilich an den 10. und letzten Band seiner Poesie der Fakten denken, legt die Wahl dieser Zyklen in 6 Kapiteln ein subtiles Spiel mit der Kabbala nahe. Immerhin ist hier der Himmel mit der 1, dem Ureinen, verbunden, während die Erde im Zeichen der 2 steht, beginnt die Kosmogonie doch mit der Ausdifferenzierung und Aufspaltung des Einen in seine Gegensätze (in Festes und Flüssiges = Land und Wasser, Licht und Finsternis, Mann und Frau); die Verzweigung, der Zwist und die Zwietracht gehören zur Schöpfung. Am 6. Tag wird der Mensch geschaffen. Wo es zur Harmonisierung sich gegeneinander richtender Kräfte kommt, erscheint die 6. Sechsecke bilden sich an den Rändern, wenn man Luft in ein Glas mit Seifenlauge bläst; die Facettenaugen der Insekten, das Oberflächenepitel des menschlichen Auges, die Bienenwaben stehen im Zeichen dieser "vollkommenen" Zahl, wie die Griechen sie nannten, weil sie anders als die übrigen sowohl gleich der Summe als auch gleich dem Produkt aus ihren Teilern ist. -

Das von Reinfrank von vornherein (genau: vor dreißig Jahren) auf 10 Bücher konzipierte und kurz vor seinem Tod mit dem 10. Band und seinen 6 Zyklen vollendete Werk der poetischen Fakten vom "endlosen Himmel" zur "zungengebundenen Erde", vom "bedrängten Tier" zum "unfügbaren Menschen" wird so (absichtlich oder nicht - was spielt das für eine Rolle?) mit dem dekadischen System, dem "zehnblätterigen Buch" in Verbindung gebracht, in dem alle Geheimnisse bewahrt sind, mit den 10 Kategorien des Aristoteles oder mit den 10 Sephirot, den lichtglänzenden Urbildern. Dann verlieren die Fakten ihre Beliebigkeit in der Tat, werden zu Chiffren und wachsen durch die dichterische Sprache zu einem windgeschlagenen Gewächs mit bunten Blüten und Kugeln, die im unübersichtlichen Weltendschungel leuchten und orientieren. Sie sind also nicht beliebig. Arno hat mich letztendlich überzeugt. Und: er hat mit seiner Poesie der Fakten einen neuen Gattungsbegriff geprägt.-

Klarheit war sein Ziel beim Arbeiten. Vor noch nicht allzulanger Zeit gehörte Dunkelheit zur Lyrik wie der Bart zum Propheten. Gottfried Benn hatte es geradezu als die Aufgabe des Dichters angesehen, die entscheidenden Dinge in die Sprache des Unverständlichen zu erheben. Arno hat in seinem Ein-Mann-Labor Geist und Ungeist der Zeit destilliert, Technik und Lyrik, Wissenschaft und Poesie kompatibel gemacht. Seine philosophische Position möchte ich "realistisch-transzendenter Monismus" nennen. Seine Dichtkunst ist nicht nur "faktisch", auf Tatsachen beruhend, sondern zugleich "faktitiv", dh. Wirklichkeit hervorbringend.

Was macht denn nun aber genau seine Literatur zur Kunst? Um das aufzuzeigen, wähle ich ein einzelnes von wie gesagt über 3000 Gedichten:

 


KOSMISCHE FAHRT
In die kosmischen Tropen!
Gefüllt den Apparat mit Mathematik und Äpfeln,
in dem wir reisen, und mit Heu.

Verlassend die weißen Sonnenverdunkler,
die Wölkchen aus Pfennig, Cent und Kopeke
und aus Torheit und Selbstsucht.

Entlangreisend dem Stoßzahn des Lichtes,
blau aus Elfenbein, der das All durchragt,
länger als der aufgerollte Äquator.

Eintauchend in den gärenden Dschungel der Sterne,
wo das Metall blüht an Kristallstruktur und Ader
und Protoplasmen küssend schon kämpfen.

Mitnehmend das Kuh-Bild unseres Lebens
und Stierkalb und Meßuhr und Brot
durch Magnetfeld und Radioaktiv in die Krater.

Denn Verbreitung bedarf unser Geruch überallhin,
Geruch von milchenden Rindern, Mensch und Widerspruch,
da wir den Rock für die Allfahrt genäht.

 

 

Es geht um die Reise in den Weltraum. Es ist 1962 entstanden und 1963 erschienen, also in jener Zeit, als zunächst US-Astronauten je dreimal und dann russische 64 und 48 mal die Erde umkreist hatten. Ein unbemanntes Raumschiff war unterwegs zur Venus. Obwohl er damals mindestens so sehr um Eindeutigkeit bemüht war und jede Art von Verschnörkelung oder Verschlüsselung verabscheute, läßt das Gedicht schon beim ersten Hören eine hintersinnige Mehrdeutigkeit ahnen.
Es beginnt mit einem Aufruf zum Aufbruch: "In die kosmischen Tropen!" Es gibt außer dieser 1. (von insgesamt 18) Zeilen noch eine weitere mit 7 Silben (alle anderen haben 8 bis 18), nämlich die 6.: "und aus Torheit und Selbstsucht."

Es gibt demnach in den reimlosen und zunächst willkürlich anmutenden freien Rhythmen durchaus verborgene Korrelationen. Allein die Zuordnung dieser beiden Zeilen (auch andere stehen in gleicher Proportion zueinander) mit derselben Silbenzahl, die außerdem sogar noch das gleiche Maß an Hebungen und Senkungen, betonten und unbetonten Silben aufweisen (es handelt sich um Drei-Heber), verweisen auf einen doppelten Sinn der ersten beiden Strophen:

Während die technische und wissenschaftliche Leistung besungen wird, verknüpft er diesen zivilisatorischen Aufbruch zu neuen Horizonten mit der Erwartung auf eine moralische Läuterung der Menschheit "aus Torheit und Selbstsucht", der Reise nach draußen entspricht eine Reise nach drinnen, und so werden gleichsam spielerisch die Fakten der Technik mit den kulturellen Werten ineinander verschränkt. Das ist Reinfranks Markenzeichen.-
Warum verwendet er das in diesem Zusammenhang (mit der Raumfahrt) ungebräuchliche Fremdwort "Tropen"? Wörtlich übersetzt heißt es "Sonnenwenden". Der Begriff drückt also die Gewißheit aus, der Sonne, dem Symbol für menschliche Wärme, näher zu kommen. So versteht man den Doppelsinn, wenn er von "Wolken" spricht, die ja rein faktisch (also in Wirklichkeit) nicht die Fahrt eines Weltraumschiffs behindern können, Wolken, die für die Verhüllung, die Verborgenheit und Verdunkelung der Wahrheit stehen. Reinfrank apostrophiert sie denn auch als "Sonnen-Verdunkler", und sie werden klar beim Namen genannt:. "Pfennig, Cent und Kopeke", also Profitgier mit "Torheit und Selbstsucht" gleichgesetzt, aus der es auszubrechen gilt.
Doch nein, diese Sonnenverdunkler werden gar nicht als "Wolken"bezeichnet, sondern diminutiv als "Wölkchen", weil der fortschrittsgläubige Autor darin auf Dauer keine ernsthaften Hindernisse erblickt, denn die Reise geht entlang "dem Stoßzahn des Lichtes". Das Licht bahnt sich einen Weg durch die Verdunkler, kraftvoll und wohl auch aggressiv wie ein "Stoßzahn". Dieser Zahn (sind das Fakten?) ist "blau". Es wäre unfair, ihn deshalb der Nähe zum Expressionismus zu verdächtigen. Aber "blau" symbolisiert nun einmal "Wahrheit", "Intellekt", "Weisheit"; im Keltisch-Druidischen ist sie übrigens die Farbe der Dichter und Seher! Arno Reinfrank hat sich selbst einmal in der Tat gesprächsweise in der keltischen Tradition der Barden gesehen, in der ein philosophischer Gehalt in einer so metaphaphorisch wie möglich formulierten Sprache vorgetragen wurde.

"Blau" ist die Farbe der Magna Mater, der großen Göttin, dem Geist der Erde (oder "Erd-Geist", wie sie bei Goethe heißt), worin sich die natura naturans personifiziert.. Sie ist immer zugleich chthonisch und himmlisch, in ihr vereinigen sich das terrestrische und das lunare Prinzip. Die produktive Kraft der Erde zeigt sich in ihren Attributen, ihrem heiligen Tier, der Kuh, ihrer Hörner oder Mondsicheln , wie sie die Schwangere in der Höhle von Lascaux oder die kretische Göttin als Doppelhelix in der Hand hält.
Um mich in der Mythologie nicht zu verlieren, mache ich nur darauf aufmerksam, daß der Schriftsteller "das Kuh-Bild unseres Lebens" gar nicht anders verwenden kann, wenn er betont, daß wir es mitnehmen auf die Fahrt "in den gärenden Dschungel der Sterne, in die Krater"! Auch das "Stier-Kalb", das männliche zeugende Pendant, die Opfergabe ohne Makel, die Seele der Welt, gesellt sich passend dazu, als säkularisierter Gottesbegriff sozusagen. Schließlich wird im Judentum Jahwe selbst "Stier Israels" genannt.
Kontraste erscheinen in diesem Gedicht miteinander versöhnt. Die Vereinigung solcher Gegensätze , z.B.

das Erdhafte (Wörter wie "Apfel", "Heu", "Kuh", "Milch" stehen dafür).

das Technische (Mathematik, Apparat, Meßuhr).

das Kosmische (Sonne, Sterne, Licht, All)

das Menschliche ( Küssen, Brot, Kämpfen, Geruch) -

 

lassen das Gedicht über die "Kosmische Fahrt" zu einer Mission geraten, voller Begeisterung zu neuen Ufern, zum Licht, voller Hoffnung - aber ohne falsches Pathos! - auf ein Entkommen aus der Dunkelheit der Selbstsucht und Dummheit, eine Reise zur Sonne, ins Zentrum, ins Herz unserer Galaxis. Diese Reise ins All verläuft nicht geradlinig, sondern spiralförmig "entlang dem Stoßzahn des Lichtes".

So ist der "Rock für die Allfahrt" genäht, sicher eine Anspielung auf den ungenähten Heiligen Rock, dessen historische Bedeutung für die reformatorische Sonnenwende des 19. Jh. Arno als einem Freireligiösen natürlich vertraut war. Jedenfalls läßt "Allfahrt" durchaus "Wallfahrt" assoziieren. Das ist gewollt.
Das Gedicht ist eine Einheit von Form und Inhalt. Es startet (1.+2. Strophe), beschleunigt (3.+4.Strophe), geht kurz vom Gas (in der 5. ) und vollendet sich in den allerlängsten Aussagen in der letzten Strophe. Hierin unterscheiden sich übrigens die späteren Gedichte, bei denen die letzte Strophe meist nur zu einem einzigen Satz oder einer deutlich abgesetzten letzten Zeile verkürzt ist. Außerdem nähert er sich im Lauf seines Schaffens durch den verstärkt auftretenden Nominalstil der Sprache der Wissenschaft an. Aber der Schalltypus seiner Gedichte bleibt der gleiche. Wer den Dichter bei einer Lesung erlebt hat, weiß, daß eigentlich nur er den richtigen Atem für seine Poesie besaß.
"Da nun" - diese Wendung legt zwingend nahe, daß "nun, da" die Fahrt begonnen hat, auch eine Mission nötig ist, eine Sonnenwende erwartet werden muß.
Ich will mit meiner Interpretation zeigen, daß das, was so vordergründig eindeutig klingt, auch mehrdeutig ist. Nicht weil die Notwendigkeit bestand für die Mission ins All, haben wir den "heiligen". Rock genäht, sondern: da wir die Rakete gebaut haben, muß jetzt auch die Notwendigkeit einer Mission des Menschen postuliert werden - auch wenn es noch Lichtjahre bis zum Ziel sind. Das Kommende ist Quelle der Hoffnung auf eine bessere, friedliche Welt, in der gemäß dem Motto des BFGD trotz aller Rückschläge.der Geist frei und ohne Zwang der Glaube sein soll.
Was hätte Arno Reinfrank zum und nach dem 11.September geschrieben? Hätte es ihm wie uns vor Entsetzen die Sprache verschlagen? Es gibt ein Gedicht von ihm, das ich Ihnen vorlesen möchte:


Verzweifelt
über die Masse
von Ungerechtigkeiten,
rief ich
im Gedicht
vor fünf, sechs Jahren
einen Meteor zur Hilfe,
daß er einschlüge
in die Börsenviertel.
Seine Ankunft ist
vorausberechnet
auf das Jahr
2006.
Er ist schon unterwegs." (4.7.1998)

Das ist ein Gedicht über ein Gedicht, in dem ihm die Worte nicht ausreichen, um seine Verzweifelung über die Ungerechtigkeit, die von einem schrankenlosen und verantwortungslosen Kapitalismus ausgeht. Ein Meteor vom Himmel, ein Deus ex machina, eine Wende ("auf in die Tropen!") wird beschworen. Nie jedoch hätte ein Mann wie Arno den Mord Unschuldiger gutgeheißen, weil er zutiefst überzeugt davon war, daß ein Mensch auf keinen Fall zum Mittel herabgewürdigt werden darf, sondern Zweck ist. Ein terroristischer Akt ist ja gerade die Folge dessen, wogegen er sich mit seinem ganzen Sein, seinem ganzen Werk immer gerichtet hat, die Folge nämlich von Fanatismus und Dogmatismus, die Nebenwirkung eines Unfehlbarkeitswahns, einer religiös verbrämten Verblendung.

"Wenn Sie einer Weltanschauung
den Vorzug geben,
dann dürfen Sie sich nicht
die Menschen anschauen!"
(11.6.1999). heißt es im gleichen Buch

Er aber - darum ist er ein Humanist - hat niemals die Durchsetzung einer Weltanschauung, einer Heilswahrheit über die Toleranz gestellt, hat immer die Menschen angeschaut, einfühlsam und voller Mitgefühl. Zum Exempel im Wartezimmer einer Arztpraxis in London: Ein islamisches junges Paar unterhält sich über eine Broschüre über Schwangerschaft und Geburt, die von drei jüdischen Ärzten verfaßt worden ist. Der Doktor ist Christ. Was Arno mit dieser Beobachtung, die er für wichtig genug einschätzte, um in seinem Tagebuch (am11.6.1999) festgehalten zu werden, imgrunde aussagen will, ist die Hoffnung, daß Dogmen und konfessionelle Schranken und mit ihnen todbringende Vorurteile ausgeräumt werden können durch Einsicht und Praxis, durch gemeinsame Problemlösung. Was wollte Robert Blum anderes?

"Ein Panzer ist kein Argument.
Ein Argument ist kein Panzer.
Gegen Panzer hilft kein Argument.
Panzer überrollen alle Argumente.

Es gilt, die Argumente zu panzern."

(30.5.1998)

Diese drei Eintragungen finden sich in seinem gewichtigsten Buch, mit dem Reinfrank in Zusammenarbeit mit Klaus Fresenius sein Werk gekrönt hat, dem Tagebuch der letzten tausend Tage, das von diesem Maler kongenial illustriert wurde.. Der Titel "Fin de siècle" stammt von de Jouvenots und Micards gleichnamigem Lustspiel von 1888 und ist seitdem die Bezeichnung für die sogenannte Dekadenzliteratur des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit weltschmerzlichem Trübsinn und pessimistischer Melancholie. Wenn Arno diesen Titel mit Bedacht gewählt hat, stellt er sich analytisch-rational dem Verfall seines Säkulums, ohne sich wie die Literatur am Ende des 19. Jahrhunderts in psychologischer Seelenmeierei zu verlieren, die ständig um das diffizile und überfeinerte Ich kreist - davor hätte ihn allein schon sein epikureisches Pfälzer Naturell bewahrt . Das Kennzeichnende seines mit Schuber 7 Kilo schweren Fin-de-siècle-Buches ist das Bewußtmachen des Übergangs, und seine Perspektive ist - wie ich sie nennen möchte - "verhalten optimistisch", "fortschrittsgläubig mit bitter-depressiven Molltönen". Sein Werk ist also keine "Niedergangserscheinung" aus seelischer Erschöpfung und kraftloser Resignation angesichts der heutigen Fast-food-Kultur, sondern eine stete Reflexion auf Toleranz, Menschenwürde und "Religiosität, die etwas ganz anderes ist als Religion", wie er wörtlich notiert. Sein ganzes Schreiben kündet von dieser humanistischen Haltung, aber mehr als das, es stellt in sich selbst einen Akt des Humanismus dar. Denn seine Dichtung macht aus dem Unvertrauten (wissenschaftliche Fakten verunsichern, und sei es schon dadurch, daß wenige immer mehr und viele und immer weniger wissen) Vertrautes, verknüpft das Alte mit dem Neuen, und dadurch läßt er sich uns in dieser verwirrend unübersichtlichen Welt zu Hause fühlen. Alle Details, also "die" Fakten, werden in seinen Strophen in oft verblüffende Nähe zu unserem Alltag gerückt. Dennoch sind seine Gedichte keine Lyrisierung des Alltäglichen. Seine Poesie ist vielmehr, wie es Paul Valéry vom modernen Gedicht forderte, "ein Fest des Intellekts". Dabei verarbeitet er die Fakten, macht sie zu Collagen und auf diese Weise aus den Splittern wieder etwas Ganzes. Man spürt aber darin die Spannung zwischen Rationalität und Vision, Phantasie und Detailtreue, zwischen Konzentration (auf ein einzelnes Faktum) und einer Universalität der Weltanschauung, die Analogie zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die Einheit alles Lebendigen und die neugierige Freude auf neue Erkenntnisse. Er gibt die Fakten nicht nur wieder, sondern setzt sie kreativ in einen geistig-moralischen Zusammenhang. verdichtet sie so, daß sie mehr aussagen als eine noch so minutiöse sachliche Beschreibung. Darum ist er so modern. Er dichtet auf der Höhe des wissenschaftlichen Zeitalters. Dazu braucht er kein Wissenschaftler zu sein. Aber ihm ist bewußt, daß Fakten weniger durch ihre Eigenschaften als vielmehr durch ihre Verbindungen und Beziehungen zu anderen interpretiert werden müssen. Alle Fakten kommen uns in unserem analytischen Denken eigentlich beliebig vor. Doch sie sind ja unzertrennlich miteinander verwoben. Darin bekundet sich sein freireligiöser Monismus. "Nicht-Trennbarkeit" ist einer der gesichertsten Begriffe der Physik.

Mein Auftrag lautet: Analysen
sind abzuliefern im Gedicht.
Wir segmentieren für das Mikroskop.
Das Sägeblatt zerbricht verschiedentlich
an Dogmen, hart wie Diamanten,
die überlassen wir dem Laserstrahl der Zeit."...

(PdF V 89)

Wir würdigen die Poesie der Fakten als Dichtung, welche die der Naturwissenschaft eigenen Methode des Analysierens d.h. Zergliederns mit dem Synthetischen der Dichtkunst, die Poesie mit Logik, Denken mit Phantasie versöhnt. Durch Reinfranks Gedichte wird der Leser über die Konfrontation mit harten Fakten - die für sich allein verwirren oder verunsichern -in einen ästhetischen Raum hineingeführt, in dem er Mensch sein kann. Sicherlich, das ist ein Experiment. Aber nach Ernst Bloch ist die gesamte Materie ein Experiment, in dessen Versuchsanordnung der Mensch inbegriffen ist. Und wenn auch der Ausgang ungewiss bleibt, so erfüllt es uns Freireligiöse, die Gott und Welt als ein Ganzes, wenn auch als etwas Werdendes, begreifen, doch mit Zuversicht, daß die Realität unabgeschlossen, nach vorn offen ist.-

Arno Reinfrank hat sich bescheiden (ja das war er, so energisch, kämpferisch und selbstbewußt er auch auftreten konnte) selber einmal als Spezialisten gesehen, der "als Piccolo-Flötist in einem großen Orchester" auftritt, und dann hinzugefügt: "Aber das ganze Konzert ist um eine Stimme geringer, wenn die Piccolo-Flöte ausfällt."

 

Arno Reinfrank ist tot. Halten wir ihn und seine Stimme wach in unserm Geist.