Arno Reinfrank

Arno-Reinfrank-Literaturpreis 2021

Laudatio von Ingo Rüdiger, Jurymitglied und Projektleiter LiteraturBüro Mainz e.V.

Ingo Rüdiger, Jurymitglied|© Klaus Venus
Ingo Rüdiger, Jurymitglied
© Klaus Venus

Liebe Jeanette,

sehr geehrte Frau Bürgermeisterin Kabs,

lieber Michael Au,

lieber Tijan Sila,

sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren,

 

als 2009 der eigentlich nur legendär zu nennende Verleger Egon Ammann beschloss, seinen gleichnamigen und in Zürich ansässigen Verlag zur Jahresmitte 2010 für immer zu schließen, führte der Deutschlandfunk ein Interview mit Ammann, das ich eher zufällig hörte. In eben diesem Interview verlautbarte Ammann – ich zitiere hier aus der Erinnerung, die eigentlich immer nur trügerisch sein kann -, dass es doch ganz einfach keinen Sinn mache, mit viel Aufwand, Herzblut und Sachverstand einen literarischen Verlag zu führen, wenn es in jeder deutschen Mittelstadt doch höchstens zwei richtige Leser gäbe.

Schnösel, dachte ich, Snob. Tolle Bücher hat er ja gemacht und durchgesetzt, der Egon Ammann, Pessoa etwa oder Mandelstam, auch zeitgenössische Autoren wie Andreas Mand und vor allem Friedrich Kröhnke. Doch hier täuscht sich der Ammann einfach, die Leute lesen doch. Und das nicht zu knapp. Das sagt mein Adressbuch, das sagt der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, das sagt jede einfach zu googelnde Statistik: In einer durchschnittlichen Mittelstadt mit 100.000 Einwohnerinnen werden im Jahr 450.000 Bücher verkauft. Manche lesen sogar so viel, dass man sich bei deren Umzugsterminen besser für ein paar Tage aus der Stadt verkrümelt und/oder ihnen ungefragt die Namen von Umzugsunternehmen mailt.

Tage später nach diesem Radiointerview war ich in einem Antiquariat in der Nachbarschaft und erzählte dem befreundeten Buchhändler von Ammanns steiler These mit den zwei Lesern auf 100.000 Einwohner mit der Hoffnung, solidarische Zustimmung für meine Empörung vom Buchhändler zu erfahren. Pustekuchen, da hatte ich mich getäuscht. Der Kommentar des Buchhändlers lautete knapp: Viel zu positiv, viel zu hoch gegriffen, auf Mainz mit seinen etwa 200.000 Einwohnern gerechnet gibt es keine vier Leser/Bücherwürmer der alten Schule. Und da der Buchhändler durchaus von meiner Tätigkeit als Veranstalter von Lesungen mit durchaus lebendigen Autoren zumeist deutscher Zunge wusste, fügte er noch, wie gerade eben vom kulturpessimistischen Stammtisch aufgestanden, hinzu: Und die sogenannte Gegenwartsliteratur kauft von denen keiner – beziehungsweise höchstens in Spuren und Promille. Und, ergänze er, „gebraucht“ lohne sich der Ankauf – selbst wenn noch eingeschweisst – dieser Bücher kaum, auch die Laufkundschaft offline oder online hielte sich bedeckt. Geknickt ob dieses Befunds ging ich mich und sichtete vor dem inneren Auge die Bibliotheken der befreundeten Literaturfans; tja, und richtig, das Sachbuch als größte und unschärfste „Warengruppe“ einmal rausgerechnet, sah ich für Suspense und rundum funktionierende Plots ein paar Meter englischsprachige Literatur, für Sexualität und Politik die Franzosen, für Tiefe und Schwere die Russen, für erzählerische Experimente die Portugiesen, Spanier, Südamerikaner undsoweiter. Deutsche Literatur, gerade die gegenwärtige, gerade die von den Long-Short-Hot-Besten-Listen, die ausgepreiste und runterbesprochene, Fehlanzeige; einige wenige Lieblinge vielleicht, aber zumeist solche, die den Listenmachern aus Gründen durchgerutscht waren.

Und dann lese ich etwa zwei Wochen vor Abfassung dieser Zeilen, den im Folgenden nur unzureichend sprich tendenziös und verknappend wiedergegebenen Facebook-Post des hier und heute ausgezeichneten Autoren Tijan Sila: „Bücher verkaufen sich immer schlechter, insbesondere "literarische" Bücher.“ Die Gegenwartsliteratur werde, so Tijan Sila, den Weg etwa des Jazz‘ gehen: Sie werde also zu einem Refugium für eine Handvoll Experten, marginal und ohne Anschluss an die da draußen, an uns da draußen.

Zustimmung und Widerspruch auf diesen Post folgten, das Ganze landete auf Perlentaucher, wurde daselbst zur Glosse erklärt und verlagerte sich als Scharmützel in die Kommentare. Und auch wenn ich mit fast allem, was Tijan Sila in seinen Antworten an die eigene Bubble in eben diesen Kommentaren abfasste, d’accord ging (seit 2009 ist dann doch viel Zeit vergangen, das Antiquariat beispielsweise hat längst geschlossen und auch sonst, sagen wir: laut vernehmbares Schulterzucken), beschlich mich Verwunderung: Warum analysiert ein Autor die Situation der Gegenwartsliteratur, gerade insbesondere im direkten Vergleich/in direkter Konkurrenz zu anderen Künsten und mit einem Exkurs in die Aufmerksamkeitsökonomie, so knallhart wie wenig optimistisch, der selbst mit seinen bisher drei Romanen zumindest von dem hier Vortragenden als einer der wenigen Schriftsteller angesehen wird, dessen Bücher uneingeschränkt und immer anders zu begeistern wissen?

Doch bevor ich mich anheische, diese Frage eher zu variieren als denn zu beantworten, möchte ich den Blick auf zwei Romane von Tijan Sila werfen: „Die Fahne der Wünsche“ und „Krach“.

Für „Die Fahne der Wünsche“, 2018 im Kiepenheuer & Witsch Verlag zu Köln erschienen, erhält Tijan Sila heute den Arno-Reinfrank-Literaturpreis. Das Urteil der Jury lautet recht einhellig: „‘Die Fahne der Wünsche‘ ist ein kluger literarischer Kommentar zu patriarchalischer Ordnung bzw. Unordnung und dabei eine höchst unterhaltsame Lektüre.“ Auch mein Votum fiel auf dieses wunderbare und seltene Buch, weil Tijan Sila hier systemische Gewalt und auf dieser Gewalt basierende Männlichkeitsbilder untersucht, die aktuell etwa in Femiziden, im schrägen Incels-Kult und überhaupt in der rechtsextremen Identitätspolitik ihre fatale Wirkung entfalten. „Die Fahne der Wünsche“ ist bei aller fast graphic-novel-haften Semifiktionalisierung des Handlungsortes, das balkanische, diktatorische Crocutanien (eher Enver Hodschas Albanien als denn Titos Jugoslawien), ein Kommentar zur Zeit, der an notwendige Diskurse anknüpft und diese in und als Literatur transferiert. Ohne dass hier freilich dem falschen Diktum des Tagesaktuellen gefolgt wird, was die „Die Fahne der Wünsche“ von der Abonnenten- und Jubiläen-Literatur angenehm deutlich abhebt.

Als sich die Jury hier in Speyer Mitte November 2020 traf, und sich auf „Die Fahne der Wünsche“ als Preisträger-Buch verständigte, war bereits in den Prospekten des Kiepenheuer & Witsch Verlages und auf der Facebook-Seite von Tijan Sila ein neues Buch annonciert, „Krach“, Anfang Mai 2021 sollte es erscheinen, und es sollte um Punk gehen; genauer um die Punkszene in der Pfalz, Mitte der 1990er-Jahre – ein Coming-of-Age-Roman.

Und als ich dann endlich „Krach“ lesen durfte, war ich hellauf begeistert, ja, mich überzeugte dieser Roman noch umfänglicher als „Die Fahne der Wünsche“ und ich beglückwünschte die Jury des Arno-Reinfrank-Literaturpreises umso lauter für die Wahl des hier und heute ausgezeichneten Autors. Nach meiner Lesart geht es in dem Buch um „Schicksal made in Germany“, um das hohle Gephrase der Chancengleichheit also – wenn nur schön strampelt, buckelt und tritt, tja, was blüht einem dann eigentlich? Es geht in „Krach“ also um die „feinen Unterschiede“, um den Stallgeruch, um die, die nach oben geboren werden, und um die, die immer unten bleiben werden. Und es geht vor allem – bitte entschuldigen Sie den nachgerade klassenkämpferischen Impuls – um einen Weg aus diesem vom Bildungssystem, von der Politik und vom anstelligen Kulturbetrieb festgeschriebenen Gesetz der Ohnmacht, das Besitz vor Leben stellt, es geht um Musik, um Szenen/Fraktionen, um Codes, um Geheimwissen, um Humor, es geht um Punk.

Was also „Krach“ von anderen aktuellen klassistischen Romanen unterscheidet, ist zum einen der Verzicht auf die erste Person Singular und ihrer zumeist sehr individuellen Beschädigung qua dieser zumindest mir rätselhaften Schein-Notwendigkeit des Milieuwechsels, und zum anderen – deutlich wichtiger – zeichnet „Krach“ sich durch dieses ganz spezifische, uneingeschränkt emanzipatorische Angebot aus, das dieses Buch bereiterhält: Es ist das Wir rund um die drei Akkorde. (Gemeint sind hier jene drei Akkorde, auf die landläufig das musikalische Ausdrucksvermögen von Punk gerne von der notenfesten Kennerschaft reduziert wird – diese Damen und Herren täuschen sich, es ist im besten Falle nur ein einziger Akkord.)

Auch die Vielleser aus dem Adressbuch waren von „Krach“ begeistert, taz und FAZ zogen in seltener Einheit mit überschwänglichen Kritiken nach. Aber sonst? Unser „Krach“-Lesekreis war etwas sagen wir verwundert. Exemplarisch für diese Verwunderung sei nachfolgende Liste beziehungsweise Nichtlistung betrachtet: Obwohl oder gerade mit Wohnort Mainz ganz klar an der Peripherie des Literaturbetriebs stationiert, schielt man doch wider besseren Wissens jeden Sommer auf die Longlist des deutschen Buchpreises – auf der jedoch „Krach“ nicht zu finden war. Stattdessen das übliche Potpourri des Erwartbaren und scheinbar Vermarktbaren. War es das Punkding, das Feiern des und der Ausgrenzten, die herrliche Gymnasiasten-Schelte, die „Krach“ diese Weihe verwehrten? Wollten also die Emsigen und Alerten wieder eine weitere Saison unter sich bleiben? Also einmal mehr Tornisterliteratur für Studiosus-Reisende statt Lesestoff up with the people?

Doch genug der mürrischen Befundspolemik und der trotzigen Mutmaßungen, gehen wir lieber wieder in Lob über. Was Tijan Sila mit seinen Büchern und mit seinen Kommentaren und Einwürfen in den sozialen Medien leistet, ist im besten Sinne Debattenkultur; es ist das Angebot an seine Leser und seine Follower, Egon Ammanns These von den zwei Lesern pro Stadt Lügen zu strafen. Es ist das Angebot, diesseits eines zur besseren-Ständeversammlung krankgeschrumpften Literaturbetriebs die zu Wort kommen zu lassen, die mehr zu erzählen haben, als nur von den Sensationen ihrer Nerven oder wer wem die Katze umgebracht hat. Da diese Arbeit an diesem Angebot jedoch Kräfte und Ressourcen erfordert, eine ständige Selbstvergewisserung der eigenen Positionen inklusive, kann es hier nicht Branchenlobhudelei, falschen Konsens und diensteifriges Abnicken gehen, nicht um die vielleicht vergebliche Suche nach den zwei richtigen Lesern – die man vielleicht gar nicht kennenlernen will da auch nur die üblichen Distinktionsgewinnler – und nicht um die Forderung nach Dauereinsitzrecht im LCB und den anderen Literaturhäusern in den Villengürteln der Metropolen.

Dafür, dass es ihm um mehr geht, genau dafür danke ich Tijan Sila, und möchte Sie auffordern, auch künftig seine Bücher zu lesen.

Und ich möchte es hier und heute nicht versäumen, auf die Lesung von Tijan Sila am Sonntag, den 14. November, im Künstlerhaus Edenkoben hinzuweisen. Beginn ist um 11.00 Uhr. Nehmen Sie bitte auch diese Gelegenheit wahr – es lohnt sich.

Vielen Dank.