Arno Reinfrank

Arno-Reinfrank-Jugendpreis 2007

Katharina Weinzierl - Erster Preis in der Kategorie "Kurzgeschichte der Altersgruppe 1993 und alter"

Der goldene Käfig

Der unerträgliche Gestank bahnte sich unaufhaltsam seinen Weg aus der dunkelroten Mahagoni-Kommode und verpestete die Luft des stickigen, dämmrigen Raumes. Sie saß zusammengesunken, mit einem leichten Seidennachthemd bekleidet und mit einem Buch in der Hand in einem der braunen Wildledersessel, die in dem großen, mit hohen Fenstern ausgestatteten Wohnraum standen.
Er lehnte an einem der lichtdurchfluteten Fenster und rauchte seine edelste kubanische Zigarre aus dem mit Gold verzierten Humidor.
Eine leichte Brise spielte mit den azurblauen Vorhängen aus indischer Seide, die sie von einer ihrer zahlreichen Reisen mitgebracht hatte. Er erinnerte sich noch sehr gut daran, denn damals war ihr 20. Hochzeitstag gewesen und sie hatte ihm eine Freude machen wollen. Er hatte sich nur höflich bedankt und die Vorhänge beiseite gelegt. Seitdem verbrachten sie ihren Hochzeitstag wie jeden anderen Tag auch: Er vor einer riesigen Leinwand stehend und impressionistische Bilder malend. Sie hingegen in ihrem weißen, steril wirkenden Büro, den anfallenden Papierkram erledigend. Damit hatte das ganze Desaster begonnen. Sie hatten sich immer weiter auseinander gelebt und nun waren die beiden am Ende ihres gemeinsamen Lebensweges angekommen. Letztendlich versuchten sie gezwungenermaßen den gewaltigen Trümmerhaufen ihrer jahrelangen Ehe zu einem halbwegs annehmbaren Scherbenhaufen zusammenzufegen, denn die Scheidungsanwälte lagen ihnen schon in den Ohren, sich zu einer Einigung zusammenzufinden, um das von ihr hart erarbeitete, gewaltige Vermögen zu teilen.
Er war nie am materiellen Reichtum interessiert gewesen. Für ihn zählten abstraktere Dinge wie Liebe, Freundschaften oder einfach, dem Klang von Mozarts Flügel zu lauschen. Seine Frau jedoch war ständig auf neue Luxusartikel fixiert, sei es das neue Kleid von Prada, der neue Bentley, den schon ihre Freundin fuhr, oder ein sündhaft teurer Urlaub auf den Bahamas. Er hasste diese eiskalte Oberflächlichkeit seiner Frau. Sie engte ihn ein. Manchmal fragte er sich, wo die Frau geblieben war, in die er sich einmal verliebt hatte, die ihm nachts den Schlaf geraubt hatte mit ihrer Fröhlichkeit und Unbeschwertheit. Was war nur aus ihr geworden? Was war nur aus ihnen beiden geworden? Sie hatte sich rund um die Uhr um die gemeinsame Firma, einen namhaften Verlag, gekümmert und alles Geschäftliche erledigt. Er hatte sich immer mehr aus dem Geschäftsleben zurückgezogen und war seinem großen Hobby nachgegangen: der Malerei. Viele Bilder zierten bereits seine Galerie und auch die Wände der gemeinsamen Villa am Stadtrand; monströse Leinwände, bemalt mit abstrakten Figuren und Formen. Sie kennzeichneten seinen Lebensinhalt. Seine Frau war damals wenig begeistert gewesen, als er ihr verkündete, dass er aus der Firma aussteigen und nur noch als Vorstandsmitglied passiv an wichtigen Entscheidungen teilhaben wolle. Sie hatte sich auf diesen Schreck erst einmal eine Packung Tabletten für ihre zerrüttete Psyche verschreiben lassen. Geholfen hatte ihr das wenig. Es war wie eine Illusion, in der beide von da an lebten. Wie eines seiner Bilder. Sie hatte sich für den Verlag aufgeopfert und alle ihre Bedürfnisse hinten angestellt, und er? Ja, er hatte sich seiner künstlerischen Ader voll und ganz hingegeben und alles andere um sich herum vergessen.
Alles, bis auf seinen gefiederten Freund namens "Hansi". Dieser exotische blaue Vogel war sein Ein und Alles. Dieses Tier war praktisch ein Kindersatz. Ein Kind, das ihm seine Frau nie geschenkt hatte oder nie hatte schenken wollen. Seine Frau hasste diesen Vogel, umso lächerlicher erschien es, dass der Wellensittich ein Geburtstagsgeschenk für ihren Mann gewesen war. Sie hatte gehofft, ihm damit eine Freude machen zu können; ein Freund, wenn sie wieder einmal das Wochenende über im Büro nächtigte. Sie hatte es gut gemeint, und vor allem ehrlich, denn sie wusste um die Vorliebe ihres Mannes für diese Tiere. Er jedoch hatte diese Geste missverstanden, praktisch als Vorhaltung für seine andauernde Abwesenheit in der florierenden Firma. Mittlerweile jedoch zwang er sich für ein paar Stunden am Tag in seinem Büro, dessen Bücherregale bis zur Decke reichten, vorbeizuschauen, während sie nachmittags bei einer ihrer Freundinnen, die dieses miserable Schicksal bei einer Tasse schwarzem Tee und einem Stück Sachertorte mit ihr teilten, von dem neuen Hosenanzug von Dior schwärmte.
Und wieder nahm er den penetranten Geruch wahr, der in seine Richtung zog.
"Was ist das bloß für ein furchtbarer Gestank?", fragte er mit vor Ekel verzerrtem Gesicht. Sie reagierte keineswegs auf seine Forderung nach einer Antwort, sondern lenkte das gerade aufkeimende Gespräch absichtlich in eine andere, ihr angenehmere Richtung. "Hast du Lust auf einen netten Abend in einem der teuren Nobelrestaurants? Wir könnten gemeinsam essen - ohne diese albernen Streitereien - und anschließend noch einen Drink in der Bar nehmen."
Ehe ihm vor lauter Wut über die Offensichtlichkeit des plumpen Themenwechsels der Kragen platzte, antwortete er in einem gefährlich ruhigen Ton: " Ich habe dir eine Frage gestellt, falls dir das entgangen sein sollte! Woher stammt dieser abscheuliche Geruch?"
"Woher soll ich das wissen? Meinst du ich gehe in diesem Haus jedem einzelnen Geruch auf den Grund und analysiere seinen Entstehungsort? Ehrlich gesagt, ist mir dafür meine Zeit zu schade. Wahrscheinlich hat die Putzfrau vergessen, den schimmeligen Käse aus dem Kühlschrank zu entfernen."
Die unterdrückte Wut, die nun wieder in ihm aufkeimte, ließ seinen kahlen Kopf wie einen roten Luftballon aussehen. Er hatte es noch nie leiden können, wenn man ihn auf so offensichtliche Weise anlog. Vielleicht kam es auch daher, dass er selbst ein trainierter Lügner war, der sofort erkannte, wenn er angelogen wurde, und über die Jahre ein besonderes Gespür dafür entwickelt hatte. "Na gut, dann werde ich dieser Sache eben selbst nachgehen", erklärte er mit einem verachtenden Unterton, während er aus der Hosentasche seines schwarzen Designeranzuges ein blau-grün kariertes Taschentuch hervorholte und es sich wie eine Art Maske vor Mund und Nase hielt. Nach der Ursache des Würgereiz erzeugenden Gestankes suchend, steuerte er instinktiv auf die glänzend polierte, dunkelrote Mahagoni-Kommode zu. In ihrem braunen Wildledersessel sitzend, starrte sie ungläubig und entsetzt auf die sich ihr bietende Szene, die sich vor ihren Augen als Drama erster Klasse abspielte. Sie stellte mit blankem Entsetzen fest, dass ihr Mann zielsicher nach der obersten Schublade griff, in der Wollsocken von sämtlichen Weihnachtsfesten gelagert wurden, und heftig daran zog. Für einen Moment schien alles im Raum still zu stehen und der Gestank, der schon mit einer gewaltig niederschmetternden Kraft in der Luft hing und die Sinne benebelte, verdoppelte sich allem Anschein nach.
Die ganze Zeit über war sie die einzige gewesen, die von ihrer entsetzlichen Tat gewusst hatte. Die Liebe ihres Mannes zu seinem Wellensittich, die seine ganze Lebensfreude hervorrief, hatte sich stets auf diesen Vogel beschränkt. Sie selbst war stets nebensächlich gewesen. Und nun hatte sie ihn zur Strecke gebracht. Eine einfache Drehung des fiedrigen, dünnen Halses des Ziervogels um 360, deren Begleiterscheinung ein unüberhörbar knackendes Geräusch war, nachdem sie vorher alle Mühe gehabt hatte, den fliegenden Ehezerstörer zu fangen. Mit einem letzten aufbäumenden Piepen war auf diese Weise das von ihr verhasste Leben aus dem besten Freund und Lebenselixier ihres Mannes entschwunden. Was sie im Endeffekt zu dieser Tat bewegt hatte, dessen war sie sich nun nicht mehr sicher. Wahrscheinlich wollte s i e für ihren Mann die erste Geige in seinem Leben spielen und hatte deshalb dem Vogel das Leben auf so schändliche Weise ausgehaucht. Oder war sie verzweifelt gewesen? Ja, sie hatte diese Tat aus Verzweiflung begangen, weil sie jahrelang für ihren Mann einen luxuriösen Lebensstandard aufgebaut hatte und er sich mit seinen künstlerischen Fähigkeiten begnügte, den Luxus mehr oder weniger missachtend.
Doch nun lösten sich ihre Erinnerungen auf und wie in Trance kehrte sie in die Realität, den tristen, grauen Alltag zurück. Wie paralysiert drehte sie ihr bleiches Gesicht in Richtung Kommode ihrem Mann zu. Die sich über die vielen Jahre angestaute Wut entlud sich mit einem Mal. Sie sah nur noch, wie der goldene Kerzenständer auf den sie stets so stolz gewesen war auf sie hinabfuhr. Ein dumpfer Schlag. Dann war es totenstill.