Arno Reinfrank

Arno-Reinfrank-Literaturpreis 2015

Laudatio von Michael Au, Literaturreferent Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur, Rheinland-Pfalz

Michael Au
Michael Au

Michael Au

Laudatio Svenja Leiber

Verleihung des Arno - Reinfrank - Literaturpreises an Sveja Leiber
Speyer 17. November 2015


 
"Jawoll, ich wurde Emigrant, das wurd ich unter anderm. Ich packte meine Heimat ein, um mit ihr auszuwandern." Ist es wohlfeil, im Jahr 2015 diese Zeilen Arno Reinfranks zu zitieren? In jenem Jahr also, von dem man schon jetzt sagen kann, dass es eine Zäsur in der Geschichte unseres Landes und unseres Kontinents darstellt. Jenem Jahr, in dem Heimat und Heimatlosigkeit uns aus fremden Augen anstarren. Nein, ich meine, dass es ganz und gar nicht wohlfeil ist, diese Zeilen Arno Reinfranks zu zitieren. Es sei denn, man zöge es vor, sich in der Lyrik einem anderen Schmerz hinzugeben als dem der unbequemen Wahrheit, die auf blutig gelaufenen Füßen zu uns kommt.
Im Jahr 2015 Arno Reinfrank zu zitieren, heißt, sich mit zeitlosen, weil immer wiederkehrenden Konflikten und Antagonismen zu befassen. Das uns verheißene Ende der Geschichte? So ein Unsinn. Wer Arno Rein-frank liest, bekommt ein Gespür von der und für die Gegenwärtigkeit von Geschichte. Ein großer Lyriker, von dem wir lernen können, zu sehen, zu hören, zu fühlen - und diese Sinneswahrnehmungen in Gedanken zu übersetzen. Also ganz und gar so, wie er das gemacht hat. Arno Reinfranks Gedichte sind Schmiergelpapier für Gewissheiten. Wer lieber auf festem denn auf schwankendem Grund stehen möchte, um zielstrebig an der digitalen Selbstoptimierung zu arbeiten, greife lieber zu anderer Lektüre. Sich nicht abzufinden mit dem, was ist, die Brüchigkeit gesicherter Grundlagen zu akzeptieren, dem Misstrauen zu vertrauen: das alles steht in den Gedichten, Prosatexten, Hörspielen und Bühnenstücken dieses Mannes, der sich selbst lapidar "Zeitzeuge, Lyriker, Querdenker" nannte. 

Einen wie ihn hätte ich gerne kennengelernt, kann es doch nicht genug von denen geben, die zu jedweder Zeit ihre verqueren Gedanken in eine schnörkellose Sprache fassen und die Dinge beim Namen nennen, die wir allzu häufig nur noch als Synonyme wahrnehmen. Wenn überhaupt. Ich habe ihn nicht kennengelernt. Als er am 28. Juni 2001 elf Tage vor seinem 67. Geburtstag in seiner Wahlheimat London seinem Krebsleiden erlag, war ich 36 und hätte nicht im Traum daran gedacht, dass ich meinem hoch geschätzten Kollegen Dr. Sigfrid Gauch acht Jahre später als Literaturreferent des Landes würde nachfolgen dürfen. 

Wer der Verleihung des Arno-Reinfrank-Preises bereits in früheren Jahren beigewohnt hat, weiß um die Klugheit meines Amtsvorgängers und um seine Verehrung für Arno Reinfrank. Sigfrid Gauch hat über Arno Reinfrank geschrieben und gesprochen und hat ihn damit für alle Zeiten konserviert. Er hat Gedichte von Reinfrank in den Literaturjahrbüchern des Landes Rheinland-Pfalz veröffentlicht und auf diese Weise dafür gesorgt, dass sie zugänglich bleiben. Das alles ist gut, ist wichtig, ist notwendig, damit Arno Reinfrank nicht vergessen wird. Was mit widerständigen Menschen nur leider allzu rasch passiert. 

Gut, wichtig und notwendig ist es, dass sich das Land Rheinland-Pfalz auch noch auf andere Weise Arno Reinfrank verpflichtet fühlt. Die Pfälzische Landesbibliothek im Landesbibliothekszentrum besitzt nicht nur den überaus umfangreichen Nachlass des Dichters, sie pflegt ihn liebevoll und mit Engagement

Last but not least ist es gut, wichtig und notwendig, dass Arno Reinfranks Witwe Jeanette Koch zusammen mit der Stadt Speyer diesen Preis ausgelobt hat, der seit 2006 alle drei Jahre vergeben wird. Mit ihm sollen deutschsprachige Schriftstellerinnen und Schriftsteller geehrt werden, die sich im Sinne des Werks von Arno Reinfrank den Idealen des Humanismus und der Aufklärung verpflichtet fühlen und dabei literarisch Besonderes leisten. Auf Svenja Leiber trifft dies zu. Trifft auf sie in ganz überzeugender Weise zu.
1975 in Hamburg geboren, debütiert sie nach einem Studium der Literaturwissenschaft, der Geschichte und Kunstgeschichte vor genau zehn Jahren mit dem Erzählungsband Büchsenlicht. Mit ihren darin versammelten dreizehn Geschichten über Sonderlinge in der nord- und ostdeutschen Provinz begeistert sie Kritikerinnen und Kritiker. Sie schreibe die Tradition der Antiheimatliteratur mit "kräftig-düsteren Farben" fort, lobt etwa die Neue Zürcher Zeitung. Fünf Jahre lässt sich Svenja Leiber Zeit bis zum nächsten Buch. Einem Roman. Schipino. Darin erzählt sie die Geschichte eines knapp vierzigjährigen Deutschen, der seine Ehe, überhaupt sein gesamtes freudloses Dasein hinter sich lässt und in einem weltenfernen Nest mit dem fiktiven Namen Schipino landet - irgendwo in den tiefsten Tiefen Russlands. Wie Svenja Leiber Figuren und Landschaften zeichnet, wie sie zahllose Handlungsstränge miteinander verknüpft: das alles ist von großer literarischer Qualität. Und wie nebenbei schreibt sie Sätze, die zum Heulen schön sind. So etwa, wenn sie ihren Protagonisten Jan Riba in Todesangst versetzt und ihn sagen lässt: "Ich wusste, dass ich durch ein Missgeschick sterben werde. Nicht einmal im Tod wird es wirklich um mich gehen."

Auch ihr jüngstes Buch, der 2014 veröffentlichte Roman Das letzte Land erfährt ebenso viel Aufmerksamkeit wie Anerkennung. Sozial hellsichtig gelingt es der Autorin, im dörflichen Mikrokosmos von den Verheerungen des 20. Jahrhunderts zu erzählen. Das letzte Land, das ist die traurig-schaurig-schöne Geschichte von Ruven Preuk, der über eine außergewöhnliche musikalische Begabung verfügt, aber an sich selbst, vor allem jedoch seiner Umwelt scheitert. Ein spannendes Buch, lakonisch erzählt. Künstlerroman, Geschichte in Breitwandformat. Ein Buch auch über Heimat, Heimatlosigkeit, Verlorenheit, besser gesagt. Ich bin mir sicher, der heimatlos heimatverbundene Arno Reinfrank hätte es gerne gelesen - und hätte sich gefreut, dass Svenja Leiber in seinem Namen ausgezeichnet wird. 

Vor nicht allzu langer Zeit hat sich Svenja Leiber kritisch über den Literaturbetrieb geäußert. Im Interview mit der Zeit sagte sie: "Ich persönlich sehe den Literaturbetrieb als ein System, in dem Beziehungen, Ge-schlecht, Aussehen und Selbstvermarktung eine größere Rolle spielen, als die Texte selbst." Als Mitglied der Jury, für die zu sprechen ich heute Abend die Ehre habe, darf ich Ihnen, liebe Frau Leiber, versichern, dass wir uns mit der Entscheidung, Ihnen den Arno-Reinfrank-Preis 2015 zu verleihen, von keinem anderen Kriterium haben leiten lassen als von der außergewöhnlichen Qualität Ihrer Texte. Herzlichen Glückwunsch, liebe Frau Leiber.