Arno Reinfrank

Arno-Reinfrank-Literaturpreis 2015

Rede der Preisträgerin Svenja Leiber

Lesung anlässlich der Verleihung des Arno-Reinfrank-Preises 2015


Was sagst du, wenn du Leben sagst?

Ich würde mich wahrscheinlich nicht über Jahre für Literatur interessieren, mir in ihrer Nähe Rücken und Augen ruinieren und um ihretwillen einen brotlosen Beruf ausüben, wenn sie in ihren guten Momenten nicht eines wirklich wäre: Der Aufbruch aus dem tausendmal gesehenen und gehörten Sprach- und Bildermüll, die verstörende und beglückende Erstbegegnung, der Aufstand des Lebendigen. Von hier bezieht sie ihre Anziehungskraft, ihren Eros. Sie geht immer ins Neue, in die Fremde, sie ist nicht sesshaft, sie denkt nicht geradeaus, sie denkt quer, sie nimmt nicht die vorgesehene Straße, sie ist vielleicht sogar ein sans papier, im besten Fall eine Revolution!

Gilles Deleuze und Felix Guattari beschreiben in ihrem Konzept der litt?ratuer mineure, einer Studie über Kafka, eben diesen revolutionären Charakter von Literatur. Ausgehend von Kafka als Zugehörigem der deutsch-jüdischen Minderheit in Prag, entdecken sie im literarischen Sprechen den Ort des Kleinen, den der Minderheit, gegenüber dem Ort der Macht. Als Gegensatz zur homogenen Mehrheit, welche die Norm, die Macht, die Kontrolle zu ihrem Selbsterhalt dringend benötigt, ist jede Minderheit in der Lage, Lücken zu suchen und zu erschaffen, in Bewegung zu bleiben, "anders" zu werden. Die Betonung liegt hier im Werden, in der "Kraft der Variation". Eine festgelegte Identität oder Subjektivität gibt es nicht. Genau darin liegt ihr politisches Potential. Literatur ist revolutionär, ohne dabei engagierte Literatur sein zu müssen. In ihrem Werdecharakter behauptet die Literatur nichts, bildet nichts ab oder nach, sondern wird zum Akt, zum Sprechakt, der unzählige Abweichungen und Alternativen zur gegebenen Norm entwickelt. Deleuze und Guattari sehen diese Möglichkeit vor allem in einem Sprechen, welches über das Subjekt hinaus fungiert, das sich einer unfertigen, tastenden, offenen Sprache bedient: "Die Sprache muss danach streben, durch ihre syntaktischen Möglichkeiten und über syntaktische Umwege auszuprobieren, das Leben in den Dingen zu offenbaren". Entscheidend ist für mich hier der Begriff des Lebens. Das Aufbegehren des Lebendigen in der sich äußernden Sprache. 

Svenja Leiber|© Klaus Venus
Svenja Leiber
© Klaus Venus

In seinen zahlreichen Publikationen kann man Arno Reinfrank, einem Zeitgenossen Deleuze? und Guattaris, dabei zusehen, wie er suchte, probierte, aufbegehrte, und sich scheinbar mit jeder Faser seines Sprachwesens ständig bewegte. Immer scheint er auf Reisen, immer scheint er auf der Seite der "Minderheit", der Seite Davids gegen Goliath gekämpft und gestritten zu haben. Immer wieder sucht er neue Formen und Farben, sei es im Fundus der Mundart, sei es im Überschreiten von Gattungen, sei es im politischen oder gerade nicht politischen Gedanken selbst.
Aber merkwürdigerweise schreibt er am Ende seiner "Babylonische Lieder" einen Satz, der mich nicht nur aufmerken ließ, sondern mich, seitdem ich ihn las, verfolgt: "Freilich, der archimedische Punkt bleibt das Tier. Es spielt die Rolle des Vertrauten, wo der Anker Grund greifen kann. Es ist das Faktische."

Monika Rinck schloss in ihrer Rede über Arno Reinfrank an diesen Satz eine wunderbare Betrachtung über die Schafe und den Kapitalismus an. Auch ich möchte mir erlauben, ein weiteres Mal auf das Tier zu sprechen zu kommen: Das Tier als archimedischen Punkt. 

Svenja Leiber|© Klaus Venus
Svenja Leiber
© Klaus Venus

Mit dem Tier also könnte man die Welt aus den Angeln heben? Warum gerade mit dem Tier?

Deleuze und Guattari erweitern ihren Begriff des Werdens der immer fragmentarisch und unabgeschlossen bleibenden Literatur dahin, dass dieses Werden immer auch ein Anders-Werden ist. Die Literatur ermögliche es dem Leser, immer neue Standpunkte einzunehmen, immer neue Sichtweisen zu erfahren. Unter anderem findet sich hier das Tier-Werden als Möglichkeit, den eigenen normierten Zustand, auch den der eigenen Gesellschaft, zu überwinden. Kafkas Verwandlung ist hier nur ein Beispiel. 

In Reinfranks Werk wimmelt es geradezu von Tieren. Sie dienen aber nicht dem Anders-Werden. Sie stehen auch nicht unbedingt für einen Prozess. Was sie immer tun: sie stehen für eine Minderheit und sie stehen für das Leben. Sie sind die Lebendigkeit, der Schmerz und die klagende Minderheit in einer Welt der Menschenmacht. Die Tiere rütteln in ihrem ständig erfahrenen Leid, so wie Arno Reinfrank sie beschreibt, an den Gittern der Gesellschaft.
Entdecken Deleuze und Guattari im Werden, in der creation des Schreibens, im Anders-Werden, im Tier-Werden eine Ethik, so findet sich in Reinfranks Werk die Ethik insbesondere im Tier selbst.
"Wie die Hausfrau, die die Stube gescheuert hat, Sorge trägt, daß die Türe zu ist, damit ja der Hund nicht hereinkomme und das getane Werk durch die Spuren seiner Pfoten entstelle, also wachen die europäischen Denker darüber, daß ihnen keine Tiere in der Ethik herumlaufen. Was sie sich an Torheiten leisten, um die überlieferte Engherzigkeit aufrechtzuerhalten und auf ein Prinzip zu bringen, grenzt ans Unglaubliche...." schreibt Albert Schweizer in seiner Kulturphilosophie, deren Zentrum die Ehrfurcht vor dem Lebenden darstellt, weshalb sie hier wenigstens Erwähnung finden soll.

Svenja Leiber|© Klaus Venus
Svenja Leiber
© Klaus Venus

Arno Reinfrank hat eben diese Türe dem Tier weit geöffnet, auf dass es, mal verstörend, mal liebenswert, mal bemitleidenswert, ungeachtet der Gattung, durch Lyrik und Prosa schnüffele, brülle, zwitschere. Immer ist es ein Erleidendes. Das Tier ist jenes, welches eben (noch) nicht werden kann, schon gar nicht "anders-werden".

In dem Prosaband Die Rettung durch Noah, finden sich drei Erzählungen, in denen die Tiere im Grunde die Hauptrolle spielen. In Der Goldene Helm ist es der Stier Karma, "der Bruderstier von Fato" , welcher, sinnlos von mutwilligen Eroberern kastriert, zum Opfertier wird, in dem die Brutalität und leichtfertige Gewalt einer invasiven Macht ihren Ausdruck findet. Außerdem sind es die Hunde des Afrifa in der gleichnamigen Erzählung, welche, um das Andenken an den Widerstandskämpfer Afrifa zu zerstören, als seine schwarzen Wahrzeichen zu hunderten auf dem Rathausplatz erschossen werden. In der titelgebenden Geschichte das gesamten Bandes, Die Rettung durch Noah, sind es die Tiere überhaupt, welche in eine neue, bessere Welt hinübergerettet werden sollten, um das Leben auf der Erde zu sichern. Hier gibt es jedoch ein Problem:
"Das Problem stellte sich für Noah gewaltiger dar, als er zuzugeben bereit war", lautete der erste Satz. Was aber war Noahs Problem? Obwohl so naheliegend, muss ich zugeben, nie an dieses Problem gedacht zu haben, wenngleich mir die Geschichte vom alten Noah natürlich von Kindheit an vertraut war.  

Svenja Leiber|© Klaus Venus
Svenja Leiber
© Klaus Venus

In mächtiger Sprache eröffnet Reinfrank die Szenerie:

"Die sieben Vortage vor der Flut erfüllte eine dumpfe Vorahnung, ein Vorauswissen bei allen Kreaturen, die sich zueinander zu drängen begannen, jeden Raub aneinander vergessend, die Brunst auslassend, nur bisweilen die Köpfe hochwerfend, als wollten sie sich des Himmels versichern, denn von dorther kam die Weisung für ihre Zukunft. Auch das Wassergewürm hatte längst verstanden, dass aus den Tiefenquellen anderes aufstieg als willkommener Zustrom. Hätte man miteinander reden können, es wäre bebend erzählt worden von plötzlichen Wallungen heißer Güsse, hochgespien aus den Rissen im Unterbödigen, fast siedend, dass beim ersten Aufstoß schon alles floh. Und alles floh auf die Arche."

Dieser Noah hat ein wahres Problem. Denn er ist nicht mit der Klarheit eines biblischen Bildes konfrontiert, sondern mit einer chaotischen Realität, mit Fakten, mit einem Andrang von Leben, welches sein Recht auf Überleben einfordert.
"Die Ballen seiner schweren braunen Hände rieb er sich übers Gesicht, rieb sie in die Augenhöhlen, um sich Klarheit zu verschaffen, denn davon hatte Gott nicht gesprochen."

Ohne ein Tier zu töten, wehren sich Noah und seine Familie mit Stöcken und wirbelnden Tüchern gegen den Andrang. 

"Aber nichts änderte etwas an der Furcht vor der sich abzeichnenden Flut, denn der Regen hatte eingesetzt, und alle wollten überleben."
"Wir müssen den Zuweg verengen", lässt Reinfrank seinen Noah rufen, und: "Niemand war da, der hätte Kontrolle üben können, gar Registratur führen über die Sorten, die Eingang gefunden hatten, der hätte abhaken können..."
Es ist noch mehr. Arno Reinfrank dichtet dem Mythos zwei Figuren hinzu, ein fleischgewordenes Paar, "dem Alten vertraut, er wusste nicht, von woher."
Auch wir kennen die beiden gut: "Es waren dies aber die Lüge und die Herzlosigkeit." Natürlich maskiert als ihr Gegenteil. Die erste säte den Irrtum unter die Tiere, fast ist man erleichtert, dass es nur das ist. Die zweite begann ein anderes Geschäft. "Erst als ein großes Gebrüll, ein Schreien und Flehen begann, befielen den Alten am Steg drunten die Zweifel an der Klugheit seiner Entscheidung..." Denn: " Schnell hatte die Herzlosigkeit mit Nachzählen herausgefunden, wer die Doppelten und Dreifachen, die Vielfachen der Tiere waren, die es verstanden hatten, sich in die Arche einzuschmuggeln. Und so riss sie mit blutiger Brutalität die Tierfamilien auseinander, trennte die Alten und die Jungen, stieß die Überzähligen erbarmungslos über den Holzrand des Schiffes ins Wasser hinunter."

Svenja Leiber|© Klaus Venus
Svenja Leiber
© Klaus Venus

So schrecklich prophetisch diese 1983/84 gesetzten Worte - nimmt man sie als Bild - heute erscheinen mögen, so will ich doch tatsächlich dezidiert bei dem Tier als Tier bleiben, und es nicht als Stellvertreter für so genannte menschliche Verhältnisse verwenden. Es geht mir um die Radikalität des Lebewesens an sich. Denn wohlmöglich werden wir gar nicht über das Überleben des Menschen sprechen können, wenn wir es, wie wir es derzeit allenthalben tun, vom Überleben des Tieres abtrennen, als seien diese beiden ohneeinander überhaupt möglich oder denkbar.

Nie zuvor verschlang der Mensch so viele Tiere wie heute, nie war ihm das Tier dabei so fern wie in der Gegenwart. Die mit der Menschheit auftauchende Erzählung selbst schildert eindrücklich diese Entwicklung einer zunehmenden Entfernung:
War das Wesen der Tiere in den alten Mythen der Menschheit noch Träger elementarer menschlicher Fähigkeiten - Pferde zogen den Sonnenwagen des Helios, das Bewusstsein, über den Himmel, ein Pferd symbolisierte die Schlauheit der Griechen vor Troja, ein Pferd leuchtete dem Recken des mittelalterlichen Romans durch die Urwälder des Unbewussten - so wandelt sich das Tier in Märchen und Fabeln zum Träger von Persönlichkeitsmerkmalen (die ihm mehr unterstellt werden, als dass sie etwas mit dem jeweiligen Tier zu tun hätten), bekommt seinen großen Auftritt noch einmal als weißer Wal in Melvilles "Moby-Dick", als Marlin in "Der alte Mann und das Meer", hier schon weit abgerückt, eine fremde Natur, ein Anderes, eine Versuchung, und erschüttert in Kafkas "Verwandlung" als obszöne Form der Selbstentfremdung. 

Betrachtet man allein diese ganz wenigen Stationen, so wurde das Tier erst nach und nach ein Anderes. Erst heute ist es etwas, in das man wie in eine Käferhülle schlüpfen kann, um anders zu werden. Was, wenn diese Abtrennung des Menschen von seinem Bruder-Schwester-Wesen in Wirklichkeit viel mehr bedeutet, als nur einen traurigen Zustand? (Was, wenn diese Abtrennung in Wirklichkeit noch viel früher stattgefunden hat? Was, wenn die uralten Höhlenmalereien von Tieren nichts anderes sagen wollten als: Das bin nicht ich! - Ich bin kein Tier - und damit die Bewusstseinsentwicklung begann?)
Äußerlich tummeln sich die Tiere zwar massenhaft in der Kinder- und Jugendliteratur, im Genre, in Form von Katzenkrimis, und im Sachbuch, hier seit neustem in Büchern wie den "Naturkunden", wunderschön gestaltet, aber doch eine Art "Manufactum-Literatur" im Sinne von: Es gibt ihn noch, den guten Esel. Die übrige Literatur (natürlich übertreibe ich hier und fasse sehr kurz zusammen!) weist dem Tier eher eine skurrile, schräge oder kuschlige Rolle zu. "Abwesende Tiere" von Martin Kluger, scheint ein geradezu exemplarischer Titel zu sein. Von "Tiermissbrauch in der Literatur" müsse man sprechen, urteilte ein Kritiker nach dem Klagenfurter Wettbewerb 2012. Es sind Bestien oder merkwürdige Felldinger, wie jenes phantasierte in "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre" von Clemens J. Setz, Kuschelwesen, welche die posthumanen Einsamkeiten digitaler Welten um ein zwei Grad erwärmen sollen. 
Doch während der Posthumanismus schon über neue Wesen visioniert, welche, wenn nicht sogar aus rein künstlicher Intelligenz, so doch mindestens um diese erweitert, einst eine gleichberechtigtere Weltgemeinschaft bilden sollen, die den Menschen als einen den übrigen Wesen Überlegenen abschafft, gebiert gleichzeitig gerade die Technisierung der Tierproduktion permanent ihre Monster. Der Vertrag zwischen den Lebewesen scheint längst und einmal mehr zu Gunsten der "Toy-Funktion" oder der restlosen Ausnutzung aufgekündigt.
In der Schuld, sehr verehrte Anwesende, finden heute das Wesen des Tieres und das des Menschen wieder zusammen. In der Schuld wird die Frage nach dem Leben offenbar. Kaschiert wird dies von einer Flut sentimentaler Gedanken über Haustiere, Delfine oder Eisbären, die in geradezu schizophrener Form zwischen niedlich und nützlich trennen. Das Banner, unter dessen Wehen die Menschheit den Gipfel ihrer Schuld momentan wieder einmal erklimmt, trägt immer noch den Schriftzug: Kapitalismus. In seinem Namen findet die Zerstörung menschlichen und tierischen Lebens ihr mythisches Ausmaß.

Eine Änderung dieses Zustandes, eine Änderung des Zustandes des heutigen Tieres, eine Änderung also des grundsätzlich Lebendigen, könnte vielleicht wirklich die gegenwärtige Welt aus den Angeln heben!
Arno Reinfrank hat diese Fakten der Schuld gesehen und kommen gesehen. Was er dabei vermochte war, unter der erdrückenden Beweislast doch leicht zu bleiben. Seine Liebe zu den Tieren, wie auch seine Liebe überhaupt, wusste er sinnlich, tänzelnd und doch deutlich wie das Knallen der Schellen eines Stepptänzers zu artikulieren. 

Lassen Sie mich mit einem Reinfrank-Gedicht aus dem Band "Heuschrecken am Horizont" schließen, einer Umformung und Neudichtung, einer "Werde-Dichtung" jener Sprachzeugnisse, welche die uralte und unkündbare Verbundenheit von Mensch und Tier bewahren. 
(nach 1.Mose 8:8-12; Hohelied 2.11-12)

 

Die Turteltaube

Öl troff vom Ölblatt.
Teer klebte
Der Taube an der Brust.
Sie kam wieder.

Langsam fliegend
Zerrte den Zweig sie
Zur Arche - und zu uns.
Es war schrecklich.

Sie lahmte
Wie eine Dronte,
fast verdarb sie
uns in den Händen.

Doch einmal, ja einmal
Kehrt sie nicht wieder.
Der Winter ist vergangen,
fort ist der Regen, dahin.

Überall stehen Blumen
In der Weltzeit der Lieder.
Die Taube senkt
Den schlürfenden Schnabel.

Sie schlürft wie trunken,
denn um sie ist Frieden.
Und eilig treibt dorthin
Unser Ruder das Floß.

 

Ich danke herzlichst für den Arno Reinfrank Preis! Ich durfte auf diesem Wege einen Schriftsteller kennen lernen, dessen Lebendigkeit mich sehr berührt. Literatur denkt quer. Der Querdenker Arno Reinfrank ist mir ein Mitstreiter im eigenen täglichen bescheidenen Versuch eines Aufstandes des Lebendigen geworden.