Arno Reinfrank

Arno-Reinfrank-Literaturpreis 2012

Laudatio von Dr. Sigfrid Gauch

Dr. Sigfrid Gauch

Laudatio Daniela Dröscher

Verleihung des Arno - Reinfrank - Literaturpreises an Dr. Daniela Dröscher
Speyer 23. Oktober 2012

 
Liebe Dr. Daniela Dröscher, liebe Jeanette Koch, Herr Oberbürgermeister, meine Damen und Herren,
von Becherbach bei Kirn fährt man 16 km weit durch zahlreiche gefährliche Kurven über Hundsbach, Jeckenbach und Breitenheim nach Meisenheim; nach 22 min ist man dort. Diesen Weg hat Daniela Dröscher als Schülerin ins Gymnasium in Meisenheim am Glan zurückgelegt, werktäglich, bis zum Abitur. Von Offenbach am Glan, meinem Geburtsort, fahre ich auf geraden Strecken, jedoch mit ständigen Geschwindigkeitsbegrenzungen, in ebenfalls 22 min 16 km weit nach Meisenheim, in dem ich in die alte Lateinschule ging. Als über drei Jahrzehnte später Daniela dasselbe Paul-Schneider-Gymnasium besuchte, gab es dies historische Gebäude bereits nicht mehr. Meisenheim hat genug historische Häuser, auf eines kommt es da nicht an.
Genug der biografischen Parallelen. Daniela Dröscher kommt es, vielleicht weil sie die steinernen Bauwerke als Kind schon sah, sehr wohl auf historische Gebäude an - wenn sie denn literarische sind. Sie beginnt mit der Mitte des 18. Jahrhunderts in ihrem Roman "Die Lichter des George Psalmanazar", in dessen Mittelpunkt ein junger Naturbursche dieses Namens steht, scheinbar ein edler Wilder, aber eigentlich ein schrulliger junger Mann, der eine erfundene Sprache spricht und als dieser edle Wilde von einem Bischof in die gelehrten Kreise von London um den Literaturkritiker Samuel Johnson eingeschleust wird.
Zu dieser Zeit, um 1750, war Samuel Johnson die wichtigste Person im literarischen Leben Londons, der englische Gottsched sozusagen. George schien wie geschaffen für Samuel Johnson, bei Daniela Dröscher ist Doktor Johnson ein fauler Fettwanst, der "sein Leben als das Ergebnis einer Abfolge von unglücklichen Vorkommnissen zu betrachten" schien. Doch der Portwein bekam ihm, seine Stieftochter Lucy erzog er nach ähnlichen Prinzipien wie der schottische Bischof seinen wilden George, alle miteinander waren sie "im Vortäuschen von Gefühlen" nur zu erprobt. Traumtänzer sind sie alle, sie scheitern am Leben, oder: besser gesagt: das Leben müht sich vergebens um sie, sie sind resistent gegen das Glück, renitent gegenüber dem Guten und Schönen, und so wirklich rechtschaffen ist keiner.
Daniela Dröscher könne "so somnambul zart und feinsinnig illuminiert schreiben, dass ihre Dialektik der Aufklärung nie zur groben Satire oder zum Essay, ihre Figuren kaum einmal zu Statthaltern von Ideen verkommen", schreibt die Frankfurter Allgemeine in einer ausführlichen Rezension; es gelängen ihr "immer wieder feine Porträts" in einer Sprache, die "tatsächlich aufgeklärt poetisch und wahrhaftig" sei; der Roman erhelle "eine barocke Wunderkammer voll wunderlicher Fata, herzzerreißender Melancholie und Klugheit".
Daniela Dröscher schreibt mit Die Lichter des George Psalmanazar auch eine Geschichte der Entstehung von Sprache und der Schrift, obwohl es eine erfundene Geschichte von erfundener Sprache und erfundener Schrift ist, im Gegensatz zu Samuel Johnson, dessen in dieser Zeit entstehendes Wörterbuch der englischen Sprache ein Jahrhundertwerk wird. Aber eigentlich ist dieser Roman eine Geschichte der Liebe und des Lebens. George Psalmanazar "ist eine kindliche Figur ohne Inneres, ohne Identität. Er ist ein Wanderer, der, jenseits eines sozialen Gefüges, in unbekümmerter Heiterkeit lebt. Seine Gefährten sind die Schrift und das Wort, die ihn immer neue Identitäten erfinden lassen, Geschichten, die andere Lügen nennen und die für ihn doch keine sind." So beschreibt Daniela Dröscher selbst einmal ihren damals noch im Entstehen begriffenen Roman, von dem sie mir seinerzeit für die Veröffentlichung in meinem Jahrbuch für Literatur ein Kapitel zusendet. - Klammer auf, Anmerkung: Im Kern trifft dieses Konzept auch auf ihren neuen Roman "Pola" zu - ist es also ein typisches Grundkonzept von ihr? Es steht zu vermuten. Klammer zu.
In der Erzählung Gloria im 2010 unter diesem Titel erschienenen Erzählungsband spricht Gloria: "Wir sind hier, also sind wir hier, sagt sie, und zieht die Schultern hoch, das Paradies ist auch nur ein Jagdgehege." In einem solchen Jagdgehege im multikulturellen Londoner Stadtteil Tottenham wohnt die Ich-Erzählerin. Sie weiß nicht, was sie von ihrer Mitbewohnerin Gloria halten soll, wir auch nicht. Auf jeden Fall ist Gloria überzeugt, dass die Stimme von Rolf Dieter Brinkmann, dass seine Poesie in den Asphalt der Straße eingedrungen ist, in der Gloria wohnt und in der 1975 Brinkmann von einem anschließend flüchtenden Autofahrer angefahren, auf die Straße geschleudert, getötet wurde. Und dass diese Straße seitdem rede. Hier werden unbeseelte Dinge zu Lebendigem und Lebendes stirbt ab. Es ist eine politisch unkorrekte Erzählung, glücklicherweise. Auch ihr Theaterstück Hundert Blumen, das am 300. Geburtstag Samuel Johnsons in Mainz uraufgeführt wurde, ist politisch unkorrekt. Die Aufführung versteht sich als "ein modernes Sozialdrama, das weder larmoyant noch einseitig das krisengeschüttelte Prekariat beschreibt, vielmehr stellt es beherzt die Frage nach Wert und Würde des Menschen." Mit ihrer poetisch-heiteren, melancholisch-trotzigen Sprache und einem zutiefst empathischen Blick auf die Verlierer unserer Zeit schildert Daniela Dröscher die Welt der kleinen Leute.
Dann aber, in ihrem neuen Roman, der nach seiner Hauptfigur, dem Stummfilmstar Pola Negri, "Pola" heißt, scheint alles anders zu sein und ist es doch nicht. Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, wollte Daniela Dröscher seinerzeit mit einem Stipendium in Polen für ein ganz anderes Romanthema recherchieren, fand sich aber unversehens im Geburtsort Pola Negris wieder und begann mit einer neuen Spurensuche, der nach Pola. Inzwischen liegt der Roman in allen Buchhandlungen, nicht nur in Berlin und Mainz und natürlich Speyer, auch in Konstanz habe ich ihn neulich gesehen. Vielen Leserinnen und Lesern wird es so gehen wie der Rezensentin in "Literaturen", die ich abschließend zitieren möchte:
"Ich muss gestehen, dass mir Pola Negri vor Lektüre dieses Romans nichts sagte. Ich hatte mich nie mit der Stummfilmära beschäftigt, dementsprechend war mir ihr Name nicht geläufig." Das sei bei diesem wunderbaren Roman aber auch gar nicht zwingend notwendig. Daniela Dröscher entführe uns in die Dreißigerjahre, in die Blütezeit Hollywoods und vor allen Dingen hinter die Kulissen. Wir erfahren, schreibt sie, dass die stets so leuchtenden neun Buchstaben Hollywood, die das Zentrum der westlichen Filmindustrie markieren, nur deshalb so weiß seien, weil sie regelmäßig von Taubenexkrementen bedeckt werden. Und so stecke hinter einer schönen Fassade auch in Pola Negris Leben eine Menge Dunkelheit. Dröschers Sprache sei eine höchst angenehme und der Zeit angepasste, der Roman lese sich flüssig und - ganz nebenbei - erlange man einen Blick ins Filmgeschäft der Dreißiger, in Amerika und in Deutschland. "Hiermit sei also eine deutliche Empfehlung ausgesprochen! Pola lohnt sich!"

Dem kann ich mich nur anschließen. Die Literatur Daniela Dröschers lohnt sich. Der Arno - Reinfrank - Literaturpreis ehrt Daniela Dröscher - Daniela Dröscher ehrt den Arno - Reinfrank - Literaturpreis.