Arno Reinfrank

Arno-Reinfrank-Literaturpreis 2012

Rede der Preisträgerin Daniela Dröscher

Daniela Dröscher


Was Mädchen auf Kassetten sprechen
oder warum neiden wir Freunden die Engel?


Rede anlässlich der Verleihung des Arno-Reinfrank-Preises 2012


Es ist nicht das erste Mal, dass ich eine Dankesrede halte, jedoch das erste Mal, dass ich explizit dazu eingeladen bin, mich mit dem Werk desjenigen Autors zu beschäftigen, dem der Preis seinen Namen verdankt. Der "Dank" hat es ja wortgeschichtlich mit dem "Denken" zu tun, und ich dachte bei den Vorbereitungen zu dieser Rede, was gibt es schöneres, als anlässlich eines Preises, den man erhält, Gedanken zu formulieren?
Gedanken sind eine Größe, die man umso leichter unterschätzt, wenn man sie unmittelbar mit der Währung des Geldes aufzuwiegen versucht. Solcherlei Berechnung stört ihre Verfertigung, und es ist ein Glück, dass mir der Preis in unserem Fall von verlässlicher Seite versprochen ist, ich also mit meiner Rede nicht darauf aus sein muss, Geld zu verdienen, sondern versuchen kann, frei zu sprechen. Parrhesia heißt diese antike Figur des nicht-strategischen, wahrhaftigen Sprechens. Diese Figur ist hier umso folgerichtiger, als meine Gedanken einem Autor gelten, der dieses Figur bereits im Namen trägt ("frank" wie "freimütig", offen") , und sich Zeit seines Lebens um eine wahrhaftige Sprache bemühte.


Aus dem umfangreichen Werk, das Arno Reinfrank uns hinterlassen hat, eine Auswahl treffen zu müssen, machte mich anfänglich nervös. Es war dann aber schließlich besonders ein Buch, das mich auf besondere Weise berührte. "Solly und die neunundneunzig Engel" heißt der knapp 200-seitige Roman, veröffentlicht 1988; zur selben Zeit erschien Wim Wenders' Himmel über Berlin - die Engel lagen also (vielleicht durch die sich abzeichnende 'Wende' im Kalten Krieg) buchstäblich in der Luft.


Was also ist dies für eine Geschichte, die Arno Reinfrank hier erzählt, und was berührt mich heute daran? Es ist, glaube ich, das Thema der Nicht-Zugehörigkeit, und die Art und Weise, wie davon erzählt wird: in einer zugleich schmerzhaft direkten, aber auch leichtfüßigen und überaus zärtlichen Sprache.


"Solly und die 99 Engel" ist die Geschichte zweier langjähriger Freunde und zugleich ein Buch über Freundschaft; das Wunder, das sie ist. Solly und der namenlose Erzähler sind jüdischer Abstammung. Beide sind als Kinder vor den Nazis geflohen. In einer großen Stadt Englands haben sie Zuflucht gesucht und gefunden. Sie sind Mitte 50, arbeitslos, arm, mit einer gehörigen Portion Galgenhumor, vollkommen abgeklärt und ohne Illusionen. Sie leben am gesellschaftlichen Rand. In einer bestürzenden Selbstverständlichkeit leben sie dort, als wäre dies ihr natürlicher Ort


An dem Tag aber, an dem die Handlung einsetzt, ist Solly verändert, wie ausgewechselt: angriffslustig, lebenslustig, glücklich nahezu. Solly hat plötzlich - zum großen Entsetzen seines Freundes - Engel um sich. Um diese einfache, aber folgenreiche Differenz dreht sich das ganze Geschehen: der eine glaubt an Engel, der andere nicht.


Dieses Buch, könnte man sagen, streut vorsätzlich Zwietracht. Die Geschichte von Kain und Abel, die biblische Urszene des Bruderstreits, schimmert an allen Ecken und Enden hindurch. Solly ist der Auserwählte, mit Engeln gesegnete, der Erzähler nicht - was Neid und Missgunst in ihm provoziert: "Statt mich darüber zu freuen, dass Solly neunundneunzig Engel zur Seite standen, bewegte mich Habgier. Kaum teilte mir mein bester Freund mit, dass er Zugang zu Wundern hatte, trachtete ich nach ihrem Besitz. Ich war einer, der sich am Eigentum eines Freundes bereichern wollte. Ja, so einer war ich. Zum Ausspucken."


Ich weiß nicht, wann Sie sich zuletzt die Frage gestellt haben, ob es so etwas wie Engel gibt. Engel sind aus der Mode gekommen, und bei Ihrem letzten Gedanke, der einem Engel galt, befanden Sie sich sehr wahrscheinlich in einer Situation, von der man sagt, dass man einen Schutzengel hatte; und dieser ominöse Schutzengel ist vielleicht der einzige Engel, der noch in unserem modernen Bewusstsein existiert.
Ganz anders ist es mit dem Neid. Der Neid gehört, anders als Engel, zu unseren alltäglichen, scheinbar selbstverständlichen sozialen Tatsachen.
Was aber genau ist das eigentlich, dieser Neid, scheint Arno Reinfrank uns zwischen den Zeilen zu fragen? Dieses Verlangen, das einem Anderen seinen Besitz, seinen Erfolg; seine Schönheit, sein Glück nicht gönnt?
Im Neid sitzt, so dachte ich beim Lesen, die Unfähigkeit, einen Unterschied anzuerkennen. Eine Asymmetrie. Der Andere ist mir überlegen, er ist - und dies ist immer ein Skandal - mächtiger als ich. Von allen Gegenständen, auf die sich der Neid richten kann, scheint nichts provozierender, als das Glück oder die Zuversicht eines Anderen.
Die Zuversicht, die etwa Solly angesichts seiner Engel verspürt, geht einher mit dem Vermögen, mit sich und der Welt, wie sie ist, einen Unterschied zu machen. Die Gesetze der Wirklichkeit nicht anzuerkennen, etwas Gutes darin zu sehen und zu suchen. Darin liegt eine ungeheure Kraft.


Von dieser Kraft wird auch der skeptische Erzähler hinfort gezogen. Sollys Engel funktionieren wie eine Proustsche Madeleine, die ihn unfreiwillig in seine Kindheit zurückkatapultieren. Sie konfrontieren ihn mit seinem Glauben, den er verdrängt hat, um die quälende Frage still zu stellen, wie man als Überlebender dieser Geschichte weiterleben, gar an Engel, oder an Gott glauben kann. Wie hat man diesen Hass auf sich ziehen können?

Einer der schönsten Einfälle des Autors Arno Reinfrank ist es, dass er - quasi als Gegengewicht zu der Gravitation der Geschichte - ein anarchisches Element auftreten lässt. Sollys Tochter, ein 12jähriges Mädchen namens Yvonne, eine Kindfrau: Nicht mehr Mädchen, noch nicht Frau, eine kleine Geisha mit blauschwarzem Haar, "eine Frau in der Knospe" (S. 173), wie es heißt. Ein unbeschriebenes Blatt.
Yvonne ist ein klassisches Neidopfer: zu schön, zu begehrenswert, zu lebenslustig, zu unlesbar ist sie. Zu uneindeutig ihrem Alter, ihrer Geschlechtlichkeit und v.a. aber ihrer Sitte: Yvonne hört ohrenbetäubend laut Rockmusik, speist ausschließlich in Nobelrestaurants - vorzugsweise Langusten - und springt mit ihrem Vater um, als wäre er "ihr Ehemann" (S. 188).
Das Mädchen verleitet die beiden Männer denn auch dazu, dass sie das Geld, dass Solly am Ende tatsächlich wie durch ein Wunder vor die Füße fällt, augenblicklich nach allen Regeln der Kunst verprassen. Unseren skeptischen Erzähler bewegt das Mädchen gar zum Tanzen, und plötzlich verspürt er, der Ungläubige, das leise Rauschen von Engelsflügeln. "Ich tanzte das Lob des Lebens und gegen den Tod, als gelte es, das Haus in Schutt und Trümmer zu trampeln. (...) Es war nicht die Musik, es war das Tanzen gewesen, was mich entflammt hatte, der Tanz als Vorstoß in die Zukunft. (...) Das Abgeklärte oder auch Abgebrühte, das Solly und ich uns oft wechselseitig als Verdienst oder Segnung priesen, war wie vieles andere bei Männern unseres Alters eine Notlüge, eine Verbrämung der Wahrheit, weiter nichts." (164/165).

Die Wahrheit, fragt man sich, was soll das wohl sein? Die Wahrheit über das Leben? Dass das Leben beides ist: unendlich schön und unendlich grausam? Kinder und Jugendliche sind dieser scheinbar einfachen, dabei aber oft unerträglichen Erkenntnis näher. Ihr Blick auf die Dinge ist unverstellter. Nicht nur sehen sie die Schönheit des Lebens mit berückender Klarheit, umgekehrt auch spüren sie Neid, Ungerechtigkeit und Ausgrenzung viel heftiger noch als wir mit den Jahren schon unempfindlicher gewordenen Erwachsenen, die wir so viel leichter anfällig für Normierungen sind.
Sollys größte Zukunftssorge ist die, ob aus seiner Yvonne ein akzeptiertes Mitglied der Gesellschaft wird. Ob sie integriert wird, teilhaben kann. Wie der Erzähler richtig erkennt, ist diese Sorge aber in Wirklichkeit ein "Trick" im Bewusstsein seines Freundes, eine "Tarnkappe, um keinen öffentlichen Neid auf sich zu lenken mit dieser Tochter. Die Menschen stören, sind sie erst mal neidisch, mit geradezu rasender Wollust, jedes Glück, auch das zufälligste" (156)

Solly sorgt sich, um es pointiert zu sagen, nicht um Yvonnes Glück, sondern darum, dass dieses Glück sie unglücklich machen wird, weil andere es ihr neiden werden. Will Yvonne eine integrierte Bürgerin werden, dann darf sie v.a. eines nicht: durch Glück auffallen. Der Neid auf den, der uns auch nur ein bisschen etwas voraus hat in Sachen Erfolg, Schönheit, Status, ist eine Signatur, ja, eine Errungenschaft des Bürgertums, schreibt der amerikanische Neidphilosoph Joseph Epstein. Der Bürger darf nicht leuchten, auffallen.


Das Wort "Bürger" meine ich hier gar nicht abfällig. Ich meine lediglich uns alle hier, die wir hier sitzen und glauben, und Neid leiste, aber ohne Engel auskommen zu können. Was hat jeder einzelne nicht alles abgeschnitten von sich, von seiner Herkunft, seinen Sehnsüchten - jeder im Geheimen natürlich, so wie der Neid stets heimlich geschieht - nur, um dazuzugehören - irgendwie.


Die Zahl der Engel in Arno Reinfranks Roman, die Zahl 99 lebt vom Unerfüllten, vom "Nicht" oder "Noch Nicht." Eine Verheißung, eine Sehnsucht steckt in ihr. Sehnsucht, sagt Epstein, ist die unschuldige Schwester des Neides. Wenn es mehr Raum für Sehnsüchte gäbe, gäbe es also womöglich weniger Raum für Neid.


Die vielleicht schlimmste Sehnsucht, die ich persönlich kenne, ist die Sehnsucht nach Normalität; jene Trauer, die einen befällt, wenn man bspw. krank ist oder einen geliebten Mensch verliert; in irgendeiner erdenklichen Weise aus der Welt gefallen ist.


In Arno Reinfranks Roman gibt es eine unvergesslichen Passage. Der Erzähler erinnert sich, wie er in seinem ländlichen Versteck, wo ihn die Mutter vor den faschistischen Häschern verborgen hält, in einem Baum sitz und davon träumt, hervorkommen und wieder in die Schule zu gehen und lernen zu dürfen.


"Ein hochgeschossener, unveredelter Kirschbaum (...) war mein Spielkamerad. Dort, auf meinem vom Wind gewiegten Hochsitz, auf einem zwischen zwei Astgabeln geklemmten Brettchen, verbrachte ich die meisten Stunden des Tages. (...) Von diesem Ast, so überlegte ich ernstlich, würde ich mich eines Tages hinunterstürzen, damit am Ende des Sturzes die Furcht aufhörte. Aber die Vögel, die ganz nahe herankamen und mich neugierig beäugten, die Vögel trösteten mich. Ihre Sprache erlernte ich früher als das Dividieren und das Multiplizieren. Die Vögel, kam man ihnen zu nahe, flogen immer auf und davon. Nur der Baum blieb. Vertrauen konnte man nur den Bäumen, die sich wie die Beter im Hause meines Rabbiners vor- und rückwärts wiegten. Wo sich die letzten dünnen Zweige, die Ränder der äußersten Blätter mit der Luft treffen, dort ist mein Vertrauen vollkommen." (199)


Der Erzähler hat also lieber den Baum als Freund und nicht die Vögel. Diese erscheinen ihm so flatterhaft und unzuverlässig wie die Engel.


'Jemanden zum Freund' haben'' ist eine irreführende Wendung. Niemand 'hat' einen Freund - im Sinne eines verlässlichen Besitzes. Freunde kann man ebenso wenig "haben" wie man Engel "haben" kann - "haben" im Sinne von "Besitz".
Der Philosoph Jacques Derrida nannte die Freundschaft einst ein "Ereignis". Ein Ereignis in dem Sinne, dass sie 'von oben' kommt. Man kann sie nicht wollen oder planen, erzwingen oder kaufen. Wahre Freundschaft ist etwas, was sich dem ökonomischen Zirkel aus Kalkül, Tausch und Mehrwert entzieht. Ein Freund, das ist ja selbst eine Art Engel; und vielleicht bleibe der Erzähler deshalb bis zum Schluss ungläubig - weil er Solly zum Freund hat.


Beim Lesen des Romans kam mir ein sonderbarer Gedanke. Toleranz, dachte ich plötzlich, Toleranz, dieses von uns so geschätzte, und gegen fundamentalistisches Gedankengut ins Feld geführte aufklärerische Prinzip, ist ein kaltes Wort. Toleranz ist das Gegenteil von Freundschaft. Die Toleranz lebt mit dem Unterschied, aber sie liebt ihn nicht.


Vielleicht ist dies ja das Versprechen einer anderen Generation und ihren rätselhaften Medien, die man als Erwachsener nur noch bedingt versteht: dass sie, irgendwann einmal, Unterschiede nicht nur tolerieren, sondern wirklich lieben wird - ohne diese Unterschiede vollends verstehen zu müssen.


Sollys Tochter Yvonne z.B. bespricht Kassetten für ihre Freundin, statt ihr Briefe zu schreiben. Ich verstehe diese Art der Kommunikation kaum besser als der 50jährige Erzähler, aber ich mag die Geste des Neubeginns, die darin steckt. Yvonne wechselt von Schrift in Stimme, sie entdeckt ein Medium für sich, das ihr weniger belastet scheint als ein anderes, und das - einem anspruchsvollen Begriff von 'Medium' nach - Gedanken nicht einfach nur trägt, sondern gleichermaßen prägt wie es sie transformiert.


Die Geschichte und die Gegenwart, sie wimmeln vor leeren Kassetten und neuen oder vergessenen medialen Formen, die stets auf der Suche sind nach jemandem, der kommt und sie bespricht.


Ähnlich ist es mit dem Wiederlesen von Büchern. Bücher sind auch solche Kassetten, nur dass sie nicht leer sind, sondern die unverwechselbare, einzigartige Signatur, die Stimme ihres Autors tragen; eine Stimme, die sich dann im Lesen mit meiner eigenen verknüpft; und für das, was in dieser Berührung entsteht, könnte man meinem Dafürhalten nach ab und an sehr gern das Wort "Wunder" bemühen.


Ich kehre nun von den Gedanken zum Dank zurück und sage an dieser Stelle ganz herzlichen Dank für diesen wunderbaren Preis; für die Entdeckung dieses Buches und seiner Engel, ohne dessen Lektüre mein Leben ärmer wäre.