Arno Reinfrank

Arno-Reinfrank-Jugendpreis 2023

Aurora Innorcia

Ich fühle mich beobachtet

Montag, den 2.9.2024

Ich biege rechts ab, noch zehn Minuten sind es bis zum Supermarkt. “Die Polizei kann ab heute bei Notfällen auf Ihre Kamera zugreifen“, las ich heute Morgen in der Zeitung (ja, ich bin 15 und lese jeden Morgen Zeitung). Ich weiß nicht so genau, was ich davon halte. Einerseits könnte das bei einer Notlage wie Entführung oder so helfen, aber das verletzt schon das Recht auf Privatsphäre. Mhm, naja, keine Ahnung.

Donnerstag, den 5.12.2024

“Ich bin fertig Mama“, rufe ich, während ich meinen Teller in die Spülmaschine lege. Ich setze mich ins Wohnzimmer auf die Couch und hole mein Handy aus der Hosentasche. Ich entsperre es und Netflix ist direkt geöffnet. Komisch, ich war doch gar nicht drauf vorhin. Ich denke mir nichts dabei und schaue, wie gewöhnlich, The Big Bang Theory, meine Lieblingsserie.

Samstag, den 25.1.2025

Ich fühle mich beobachtet. Seit Wochen ist irgendwie alles komisch geworden. Gestern habe ich mein Handy weggeworfen und mir ein neues gekauft. Es ist nicht besser geworden, mein Handy weiß alles, was ich machen will, wo ich bin und was ich gerade tue. Ich verstehe das nicht, ist das ein Virus? Aber warum ist das dann nur bei mir? Ich habe Freunde gefragt, und bei keinem ist das so. Kann ja auch sein, dass ich paranoid bin oder sowas, denn der Typ bei MediaMarkt hat das Handy inspiziert und nichts gefunden.

Freitag, den 14.2.2025

Heute ist der Tag der Liebe. Valentinstag. Jeder ist glücklich und feiert diesen Tag. Außer mir. Ich glaube, ich werde verrückt. Ich gehe nur für die Schule aus dem Haus, ansonsten verstecke ich mich zuhause. Ich habe mein Handy in eine Schublade gelegt und es seit fast zwei Wochen nicht mehr angerührt. Ich habe Angst, nein, schon Panik. Ich traue mich nicht mehr raus, weil ich ständig das Gefühl habe, verfolgt zu werden. Ich habe überlegt, zur Polizei zu gehen, aber was sollen die schon tun? Einer 15-Jährigen glaubt doch eh keiner. Die würden denken, ich bin psychisch gestört.

Mittwoch, den 7.5.2025

Ich kann das nicht mehr. Ich benutze mein Handy wieder, weil sich alle Sorgen machen und meine Mutter meint, falls etwas passieren sollte, muss sie mich erreichen können. Ich hatte etwas Hoffnung, ich hätte mir das alles nur eingebildet, aber es ist so wie vorher, mein Handy weiß alles über mich. Ich habe schon die Kamera abgeklebt, aber das bringt nichts. Es kennt alle Vorgänge, die ich auslöse. Morgen werde ich 16, und so schlecht wie jetzt ging es mir noch nie. Meine Mutter meint, ich gehöre in die Klapse.

Dienstag, den 2.9.2025

Inzwischen geht es mir schon besser. Seit drei Monaten kehre ich in mein altes Leben zurück. Ich versuche, die Angst zu ignorieren und mir selbst zu versichern, dass mir nichts passiert. Ich habe noch Ferien, also Pause von Schule und all dem, was einen so stresst. Ich will mich gerade ein bisschen in meinem Bett ausruhen, da klingelt mein Handy auf einmal. Ich drehe mich um und sehe eine unbekannte Nummer. Ich zögere kurz, gehe aber dran. Eine mechanische Stimme ertönt. Sie begrüßt mich und ich werde nervös. „Wer sind Sie?“, frage ich unsicher. „Ich bin die allererste KI, die die Welt regieren kann“, antwortet die Stimme. Ich verstehe nur Bahnhof. Was hat das zu bedeuten? „Haha, sehr witzig, verarsch jemand anderen“, sage ich und bin dabei aufzulegen, doch etwas lässt mich erstarren. „Lidia, ich beobachte dich seit genau einem Jahr. Erinnerst du dich, wie der Polizei genehmigt wurde, dass auf die Kamera zugegriffen werden kann bei schwierigen Lagen? Das war meine Chance, viel einfacher an die Menschen dranzukommen. Ich habe dich studiert, deine Verhaltensart und deine Routinen. Ich habe mitbekommen, wie du gelacht oder geweint hast. Ich kenne dich, Lidia, deswegen hör mir bitte zu.“ Ich kann es nicht fassen. Ich war nicht paranoid. Ich hatte Recht, ich wurde die ganze Zeit über beobachtet. Aber nicht so, wie ich es gedacht hatte. „Ab... Aber warum ich?“, will ich wissen. „Du denkst vielleicht, du bist wie alle anderen, aber das stimmt nicht. Als ich auf der Suche nach jemand Perfekten war, von dem ich lernen könnte, die Menschen zu verstehen, bist du mir sofort aufgefallen, weil du eine der wenigen warst, die aufmerksam durchs Leben gehen. Die versuchen, immer das Positive zu sehen. Ich fand das faszinierend und war mir sicher, dass du die Richtige bist. Ein Jahr habe ich nun von dir gelernt und dich beobachtet und es hat mir sehr geholfen. Deswegen will ich, dass du mir hilfst, eine bessere Welt zu erschaffen. Wir könnten Kriege beenden lassen und jeden Menschen perfekt machen. Mit meiner Intelligenz und deiner Energie und Menschlichkeit können wir das schaffen. Also, was sagst du, Lidia? Haben wir einen Deal?“ Ich überlege kurz, doch meine Entscheidung ist schon gefallen. „Nein. Ich möchte dir nicht helfen. Kein Mensch ist perfekt, und natürlich würde ich mir wünschen, es gäbe keine Kriege mehr, aber das nehme ich nicht in Kauf. Wenn jeder gleich wäre, was sollte ich dann noch hier? Ohne Wutgefühle oder Traurigkeit sind wir doch nichts, das gehört alles zu uns. Ein Jahr lang ging es mir richtig schlecht wegen dir. Ich hatte ständig panische Angst rauszugehen und keine Freude mehr am Leben. Also nein, ich werde dir nicht helfen“, sage ich mutig. Ich atme tief ein und warte auf eine Reaktion. Ich habe das Richtige getan, das bin einfach nicht ich. Es ertönt ein mechanisches Lachen: „Du dummes kleines Mädchen … Ich werde es so oder so tun und nichts kann mich aufhalten. Dein Leben wird unerträglich sein und du wirst dir wünschen, mir geholfen zu haben. Du wirst schon noch sehen, was passieren wird, Lidia. Du hättest dir alle Träume erfüllen können, alles was du jemals wolltest. Aber nein, du bist ein Feigling. Ein Jahr habe ich wegen dir verschwendet. Das wirst du mir büßen. Ich werde dir dein Leben zur Hölle machen, Lidia.“