Arno Reinfrank

Arno-Reinfrank-Jugendpreis 2023

Sarah Späth

Einsamkeit

Meine Augen öffnen sich. Ich bin alleine, wie immer. Keine Familie, keine Freunde. Meine Füße bewegen sich Richtung Boden und versuchen Halt zu fassen. Ich blicke in den leeren Raum und spüre einen kühlen Wind an mir vorbeiziehen. Das Fenster fällt mit einem Schlag zu. Mein Handy ertönt und gibt ein Lachen von sich. Genau in diesem Moment kann ich mich an den vorherigen Tag erinnern, ich kann mich an alles erinnern. Es war wie jedes Jahr dieser eine Tag, der Todestag meiner Familie. Ich gehe dann immer einmal ans Grab, um bei ihnen zu sein, um ihre Nähe zu spüren. Eine Sache war jedoch diesmal anders: Vor einigen Tagen kam eine neue App auf den Markt, welche den genauen Todeszeitpunkt eines Menschen voraussagen kann. Mein erster Gedanke war, wer so eine absolute Scheiße überhaupt glauben kann. Doch seit ich diese merkwürdige App installiert habe, passieren ständig seltsame Dinge. Zum einen lässt mein Handy jede Stunde ein Geschrei ertönen, welches fast mein Trommelfell zerstört. Zudem habe ich das Gefühl, nicht alleine zu sein, nicht alleine in dem leeren Raum. Ich höre es, das Geräusch, welches in meine Ohren hineingekrochen kommt und welches nur Schmerzen verursacht. Mein Handy leuchtet auf und es zeigt eine rote Ziffer. Ich murmele in mich hinein: „Nur noch scheiß sieben Stunden.“ An sich darf ich so einen Müll gar nicht glauben, aber hinter jedem Gedanken steckt auch ein bisschen Wahrheit. Bevor ich die Wohnung verlasse, renne ich noch schnell ins Badezimmer und krame meine Medikamente heraus, welche ich jeden Tag einnehmen muss. Es ist schon zu einer Routine geworden, sie zu nehmen, bevor ich wieder rückfällig werde. Mit den kleinen runden Teilchen geht es mir auf jeden Fall besser, doch manchmal treten in meinem Kopf Illusionen auf, die ich nicht beschreiben kann. Ich packe zügig meine Sachen, um die Bahn zur Uni noch zu bekommen. Mein Körper fühlt sich schwer an, wobei vor allem meine Beine immer schwerer werden. Die Tablette schwimmt noch immer in meinem Mund herum, bis ich sie endlich hinuntergeschluckt habe. Ich setze mich in der Bahn auf meinen gewöhnlichen Platz und schaue mir die vorüberziehende Landschaft an. Nach dem Ausstieg sind es nur noch ein paar Schritte, bis ich in meiner Vorlesung sitze und die Sekunden zähle, bis ich sie auch schon wieder verlassen kann. Alles schien normal abzulaufen in diesen paar Stunden, doch sah ich in irgendetwas mein bleiches Gesicht widergespiegelt, war ich nicht alleine zu sehen. Es war etwas hinter mir, etwas ist bei mir, das ich nicht identifizieren kann. Es sieht wie der lebendige Tod aus. Rot unterlaufene Augen, kreideähnliche Haut und kaum Haare auf dem Kopf. Ich sehe es wieder, als ich an einem Auto vorbeigehe. Ich bleibe stehen und schaue der Person tief in die Augen. Es gibt mir kein gutes Gefühl, sie so lange anzuschauen, denn ich sehe in ihr nichts, einfach nur Leere. Ich bin vom Gedanken gefesselt, sie anzufassen, doch im selben Moment fährt das Auto weg und ich verliere sie aus meinem Blickfeld. Das Geräusch, wie gewohnt, bekomme ich es jede Stunde zu hören, genau wie jetzt. Was soll es bedeuten? Ich kann es nicht einmal von meinem Handy löschen. Ich weiß nicht, ob ich Angst haben soll oder nicht. Ich beeile mich, um die letzte Bahn zu schaffen. Beim Aussteigen denke ich noch einmal über die ganze Situation nach, aber es ergibt immer noch keinen Sinn in meinen Augen. Ich schmiere mir mit den letzten Scheiben noch ein Brot und lege mich auf mein Bett. Ich esse langsam und möchte mich daraufhin gleich ins Badezimmer begeben, um meine Hände zu waschen. Dort angekommen, greife ich in den Spiegelschrank und nehme meine letzten Medikamente in die Hand. Ich sage zu ihnen: „Ihr seht ganz schön traurig und einsam auf meiner Hand aus.“ Mit einem Schluck Wasser nehmen ich sie ein. Als ich den Spiegelschrank mit einem Schlag schließe, sehe ich sie. Sie schaut mir tief in die Augen und fängt an zu lächeln. Ich fühle mich aus irgendeinem Grund mit ihr verbunden. Sie greift nach meinen Händen und fängt an zu singen. Es ist genau dasselbe Lied, welches meine Mutter vor Jahren mir und meinen Geschwistern zum Einschlafen vorgesungen hat, bis meine ganze Familie vor drei Jahren sich das Leben genommen hat. Ihre Stimme wird immer lauter und sie nimmt immer fester meine Hände, sie hat schon fast meine Arme gefasst. Sie zieht meinen halben Körper in den Spiegel hinein. Es fühlt sich unrealistisch an und ich fange an zu schreien. Ich wehre mich und beginne, mit meinen sämtlichen Körperteilen um mich zu schlagen. Ohne Erfolg, mit einem Ruck hat sie mich zu sich hingezogen. Im Inneren des Spiegels sehe ich nicht nur sie, ich sehe meine ganze Familie, welche mich hilflos anschaut. Die Frau ist meine Mutter, die ich all die Jahre ständig vor mir sah. Jetzt gibt sie mir einen goldenen Dolch und flüstert: „Töte dich, töte dich mit diesem Dolch, um für immer bei uns zu sein, bei deiner Familie.“ Es ist das, was ich immer wollte, bei den Menschen zu sein, bei denen ich mich wohl fühle. Ich überlege keine Sekunde. Im Endeffekt will ich nie wieder alleine sein. Nicht mehr aufwachen und mich fragen, warum ich überhaupt noch aufstehe. Ich nehme ihn ihr ab und ziehe mit der Spitze des Dolches über mein Handgelenk bis zur Mitte meines Armes. Ich setze ihn an der Pulsschlagader an und mache einen tiefen Schnitt. Mein Körper klappt in sich zusammen und ich sehe nur noch Blut an mir herunterlaufen. Ich spüre keinen Schmerz, nur Freude. Die Gewissheit zu haben, gleich in den Armen meiner Familie aufzuwachen, ist das Schönste. Das letzte Geräusch vor meinem Tod dringt an meine Ohren, es ist mein Handy. Ich sehe es auf dem leeren Boden vor sich hin leuchten. Ich sehe noch einen Countdown bis Null herunterzählen, bevor sich meine Augen endgültig schließen.