Arno Reinfrank

Arno-Reinfrank-Jugendpreis 2023

Lea Schneider

2070, zwanzig Jahre nach der Überflutung der Erde durch den angestiegenen Meeresspiegel

Prolog:

Sie war so klein und zerbrechlich, als ich sie das erste Mal auf dem Arm hielt, und mir war vom ersten Moment an klar, dass sie anders, nein, besonders sein würde. Nicht nur wegen ihrem so zarten, hellen Haar und ihren in allen Meerestönen strahlenden Augen, sondern auch wegen ihrer fehlenden Kiemen, die sie so dringend zum Überleben brauchte. Ich hätte mehr Zeit benötigt, doch es musste schnell gehen, sonst hätte ich sie für immer verloren, und das konnte ich nicht zulassen. Also habe ich das einzige in meiner Macht Stehende getan und einen Teil ihrer Lunge, der eh abgestorben war, durch ein Stück Computer ersetzt, das für sie atmen würde. Allerdings durch das falsche, wie ich zu spät bemerkte …

16 Jahre später

Die Alten erzählen noch oft davon, wie es damals war, auf der Erde zu leben, also so richtig, nicht hier im Meer. Sie erzählen von einem weiten Himmel und grünen Wiesen mit Blumen in allen nur erdenklichen Farben. Seit der Überflutung, die ich überhaupt nicht mitbekommen habe, hat sich wohl sehr viel verändert – und gleichzeitig auch überhaupt nichts. Die mutierten Menschen bauen immer noch Häuser, leben ihr Leben, achten nicht aufeinander und schließen Dinge aus, die sie nicht verstehen, nicht verstehen wollen, und die anders sind als ihr Bild von Perfektion. Leider treffen so ziemlich alle diese Dinge auf mich zu, selbst mein Name, Sola. Das Hauptproblem an der Sache jedoch ist, dass ich nicht von allein atmen kann und dafür einen Computer in meiner Brust habe. Das allein wäre ja schon komisch genug, hätte mein Vater, welcher wissenschaftlicher Arzt und einer der renommiertesten Doktoren meiner Zeit ist, nicht den Fehler begangen und mir in der Eile die falsche Platine implantiert. Tja, und seitdem habe ich eine sehr fortschrittliche KI in meinem Körper. Sein Name ist Sam, nur ihm habe ich es zu verdanken, dass ich heute noch lebe. Ohne meinen besten Freund läge ich wahrscheinlich schon viel näher am Erdkern.
Die Menschheit ist immer noch so bösartig wie eh und je. In der Schule wurde ich regelmäßig wegen meines Aussehens gemobbt und ausgeschlossen, das ging so weit, dass Sam sich eines Tages in die Hilfs-KI des Jungen, der mich verprügelt hat, gehackt und ihn so wirr gemacht hat, dass er nicht mehr zu gebrauchen war. Allerdings muss gesagt sein, dass diese KI kein bisschen war wie Sam, sie war einfach „normal“, ohne jeglichen eigenen Charakter. Zugegebenermaßen ist es auch sonst sehr nützlich, Sam als Freund zu haben, da er quasi alle Klassenarbeiten für mich schrieb, bzw. mir hilft, wenn ich einen Blackout habe. Nach meinem Abschluss haben wir uns dafür entschieden, in die Forschung zu gehen, mit der Spezialisierung auf das Themas Erdkern. Wir sind weit gekommen und haben viel Faszinierendes herausgefunden und viele Preise für unsere Ideen zum Thema Kühlung des Erdkerns bekommen, damit unser Lebensraum nicht zu heiß für uns wird und wir alle durch das kochende Wasser an unseren Verletzungen sterben. Über die Jahre entwickelte sich zwischen uns jedoch mehr als nur Freundschaft. Und das war der Anfang vom Ende. Sam suchte verzweifelt nach Wegen, wie er es schaffen könnte, sich in eine andere KI zu transferieren und gleichzeitig weder mich noch sich selbst zu beschädigen. Er schloss sich mit meinem Vater zusammen, der noch nie von Sams Existenz begeistert gewesen war, und zuletzt fanden sie einen umsetzbaren, aber wahnsinnig gefährlichen Weg. Ihr Plan war, zum Erdkern zu reisen und dort ein ganz besonderes Material zu sammeln, welches den Bau einer Ersatzplatine für mich und gleichzeitig das Transferieren für Sam vereinfachen sollte. Die beiden waren davon begeistert, aber ich flehte Sam an, es nicht zu tun. Wir hätten auch so glücklich werden können, aber er sah es einfach nicht ein. Also reisten wir schlussendlich wirklich alle drei zusammen zum Erdkern. Dies war der Augenblick, zu dem ich am liebsten die Zeit zurückdrehen würde. Was wir nämlich alle drei nicht bedacht hatten, war die Hitze des Erdkernes und der Schmelzpunkt des Metalls, aus dem Sam und meine Lunge bestanden. Ich fühlte förmlich, wie es in mir brühend heiß wurde und alles zerfloss. Es floss überall hin, in meinen Bauchraum und über meine noch gesunde Lunge bis hin zu meinem Herzen. Noch nie in meinem ganzen Leben empfand ich so einen Schmerz, aber ich kämpfte mit allem, was mir zur Verfügung stand, gegen die Ohnmacht, denn ich spürte, dass Sam bereits nicht mehr reagierte, und wenn wir beide weggedämmert wären, hätten wir keine Chance mehr gehabt. Zwei Tage später wachte ich in einem sterilen, weißen Raum auf, den ich noch zu gut von meinen Kindheitsbesuchen im Krankenhaus kannte, wenn etwas mit meiner Lunge und Sam nicht stimmte. Und da merkte ich es, Sam war weg. Ich spürte es sofort, alles in mir tat unendlich weh, und doch spürte ich gleichzeitig überhaupt nichts. Er ist weg!, panisch sah ich meinen Vater an, der gerade das Zimmer betrat, und ich wusste, dass etwas schiefgegangen war. Sie mussten Sam entfernen und hatten es sogar geschafft, ihn in eine andere KI zu versetzen. Und doch wurde sein Speicher zu stark beschädigt, sodass sie nichts mehr für ihn tun konnten. Mein Vater erzählte mir irgendetwas mit unendlich vielen Fachwörtern und wie schlimm meine Verletzungen seien, doch ich hörte ihm nicht zu, ich konnte ihm nicht mehr zuhören. Er war fort, Sam war für immer fort und ich fühlte mich so allein. Ich hatte ihn so lieb und gleichzeitig war er mein bester Freund, der immer für mich da war. Durch ihn war es OK für mich gewesen, so zu sein, wie ich war. Und jetzt sitze ich hier vor meinem Tagebuch mit einer unendlichen Leere in meiner Brust und weiß nicht, wo ich mit dem Rest meines Lebens so ganz allein hinsoll.