Arno Reinfrank

Arno-Reinfrank-Jugendpreis 2011

Seyma Karakoyun - Dritter Preis Kategorie Kurzgeschichte

Virtuelles Leben
 
Ich schlage das dicke Geschichtsbuch zu. Die Hausaufgaben habe ich schon erledigt und lernen muss ich auch nichts mehr. Erst jetzt bemerke ich, wie still es ist. Mein Status in MSN ist immer noch auf online eingestellt. Doch keiner meiner Freunde sind zurzeit online, da die meisten entweder beim Training oder bei der Nachhilfe sind. Die Angewohnheit, mich bei erster Gelegenheit bei MSN anzumelden, konnte ich nicht aufgeben. Aber jede Gewohnheit hat einen kleinen Anfang und so entscheide ich mich, mich abzumelden und den Laptop herunterzufahren.
Als mein Laptop endgültig ausgeschaltet ist, wird die Stille von Sekunde zu Sekunde unerträglicher. Ich richte mein Blick zum Fenster hinaus. Doch egal wohin ich auch mein Blick richte, sehe ich die altbekannten Gebäude. Diese sind und bleiben die ständig rauchenden Türme der BASF. Für einige Minuten stehe ich nur da und sehe die Autos unten auf der Straße vorbeirauschen. Schließlich entscheide ich mich, dass das nichts bringt. Aber sobald ich mich umdrehe, fällt mir mein Laptop wieder auf. Gereizt von der Tatsache, dass ein einzelnes Gerät alle meine Sinne auf sich lenkt, greife ich nach der Türklinke.
Gelangweilt verlasse ich mein Zimmer in der Hoffnung, dass ich im Haus auf etwas Interessantes stoße.
Als ich an dem Zimmer von Jens, meinem jüngeren Bruder, vorbeikomme, sitzt dieser vor seiner Spielkonsole. Ich beobachte ihn eine Weile. Seine Kappe sitzt schief auf seinem Kopf. Er sieht, so wie er da sitzt, molliger aus als sonst. Etwas Bewegung könnte ihm nicht schaden.
Ich frage ihn, ob wir etwas zusammen unternehmen sollen. Hochkonzentriert drückt er sich die Finger wund an seinem Dual-Shock-Controller und gibt mir, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden, eine knappe Antwort: ,, Nö! ''.
Genervt schaue ich mich in seinem Zimmer um und entdecke unter einem Heftstapel ein Blatt Papier mit einer roten runden Zahl darauf.
,, Aha, Jens! Da haben wir es ja! Die Note Sechs im Mathe-Test. Weiß Mutter, dass du den zurückgekriegt hast? '' ,,Hau ab, verschwinde! Ich sage es ihr später! '', antwortet er mir genervt.
,, Und was, wenn ich nicht rausgehen will? '' In einer Blitzgeschwindigkeit schlage ich die Tür hinter mir zu, damit ich nicht von seinem Kissen getroffen werde.
Im Erdgeschoss entdecke ich meinen Vater in seinem Arbeitszimmer. Er sitzt vor seinem Computer und tippt eifrig. Langsam schleiche ich mich von hinten an. Auf dem Tisch steht eine Tasse Kaffee. Ich frage mich, wie lange er schon dasitzt und arbeitet. In dem Moment, als ich ihn ansprechen will, klingelt das Handy. Er nimmt ab und beginnt mit seinem Kollegen zu telefonieren. Ohne ein Wort zu sagen, verlasse ich das Zimmer und begebe mich in das Wohnzimmer.
Hier sitzen meine Mutter und meine ältere Schwester Sandra und schauen sich ihre Lieblingsserie an.
,, Mum, können wir kurz reden? '', frage ich. Doch sie wendet nicht den Blick vom Bildschirm und antwortet mir, dass sie jetzt nicht könne. Sandra verdreht ihre blauen Augen, wirft mit einer Handbewegung das lange braune Haar nach hinten und meint, ich würde nerven.
,, Sag mal Jana, hast du nichts Besseres zu tun? Über deine Teenagerprobleme können wir jetzt nicht reden. ''
,,Ich bin nicht gekommen, um über Teenagerprobleme zu reden! Mir ist langweilig und ich hätte gern jemanden zum Kommunizieren. '' Wütend verlasse ich den Raum.
In meinem Zimmer angekommen schalte ich meinen Laptop ein. Während dieser langsam hochfährt, schaue ich mich in meinem kleinen Zimmer um und bemerke die auf dem Boden liegende Zeitung, die ich für den Sozialkundeunterricht durchblättern sollte. Auf der ersten Seite fällt mir ein Artikel auf. Es geht um das Kernkraftwerk , Fukushima zwei ' , welches auf einem großen Bild neben dem Artikel zu erkennen ist.
Mein Laptop gibt eine Begrüßungsmelodie von sich und schon vergesse ich, was ich gerade erst gesehen habe.
Innerhalb von wenigen Minuten öffne ich die Startseite des meistbenutzten Online-Kontaktnetzwerks , facebook '.
Meine Freunde sind online und schreiben mich sofort an. Es tut gut, mit Freunden chatten zu können und Neuigkeiten auszutauschen.
So vergeht bei mir jeder Abend.